Wein

Der Traum vom perfekten Schaum

Schon manches Anbaugebiet versuchte, dem Champagner nachzueifern. Jüngstes Beispiel: die Franciacorta, eine Region am Fuß der Alpen, die elegante Schaumweine hervorbringt. Über den Traum vom perfekten Schaum und den Wettbewerb zwischen David und Goliath.

VON HOLGER CHRISTMANN
FOTOS: STEFFI-CHARLOTTE CHRISTMANN
5. August 2021
Die Weinberge der Franciacorta am Lago d’Iseo. Der See fächelt den Reben Luft zu und schafft gute Bedingungen für einen elegante Schaumweine. Foto: Franciacorta

Wenn Emanuele Rabotti mit seinem Golfcaddy über die Weinberge seines Guts Monte Rossa zuckelt, überkommt ihn ein Hochgefühl. „Bei klarer Sicht kann man von hier die Walliser Alpen sehen“, schwärmt er. In südlicher Richtung erhebt sich der Apennin. Am meisten Freude bereitet ihm jedoch der Anblick seiner Rebstöcke, die sich über mehrere Hügel erstrecken. Fünfundsiebzig Hektar sind es. Chardonnay, Pinot Blanc und Pinot Noir werden hier angebaut. Sie sind die Grundlage eines Schaumweins, der in Italien seit einigen Jahren als Alternative zum Champagner geschätzt wird und Prestige genießt. Den Rest der Welt versuchen die Winzer der Region am Fuß der Alpen gerade von der hohen Qualität ihrer Gewächse zu überzeugen.

Holger Christmann mit Emanuele Rabotti, Inhaber des Weinguts Monte Rossa. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Die Franciacorta liegt in der Lombardei. Ihre sanften Hügel erstrecken sich zwischen Brescia und dem Südrand des Lago d’Iseo. Internationale Aufmerksamkeit erzielte die Region im Sommer 2016, als der Künstler Christo über den Lago d’Iseo seine Floating Piers spannte. Am Südrand des Sees, in Sarnico, entstehen seit jeher die legendären Rivaboote. Die Karriere der Franciacorta als Schaumweingebiet begann in den fünfziger Jahren. Damals heuerte der Winzer Guido Berlucchi, Nachkomme des Grafengeschlechts Lana de Terzi, den Önologen Franco Ziliani an, um seinen Stillwein zu verbessern. Ziliani war ehrgeizig. Er träumte von einer italienischen Version des Champagner, und fragte Berlucchi: „Und wenn wir einen Schaumwein nach Art der Franzosen machen?“ Berlucchi zeigte sich interessiert, und nach durchwachsenen Anfängen brachte er 1961, also vor genau 60 Jahren, die ersten dreitausend Flaschen eines Schaumweins in Flaschengärung auf den Markt. Der Franciacorta war geboren.

Berlucchi produziert heute auf 520 Hektar rund vier Millionen Flaschen jährlich – eine Menge, die etwa der von mittelgroßen Produzenten der Champagne wie Louis Roederer entspricht. Inzwischen ist Zilianis Familie in dritter Generation für die Qualität der Gewächse verantwortlich und die begeistert Jahr für Jahr die Kritiker. 2021 schnitt vor allem der Franciacorta Extra Brut Extreme Palazzo Lana Riserva 2009 hervorragend ab. Er wurde von der Weinzeitschrift Decanter mit 96 von 100 Punkten und einer Goldmedaille ausgezeichnet, James Suckling gab ihm 93 Punkte. Dem Berlucchi ‘61 Nature 2013, einem Tropfen aus siebzig Prozent Chardonnay und dreißig Prozent Pinot Noir, der fünfeinhalb Jahre in der Flasche gedeiht, gab James Suckling 91 Punkte. Selbst die weit verbreitete Standardausführung Berlucchi ‘61 Brut aus neunzig Prozent Chardonnay und zehn Prozent Pinot Noir würdigte der Brite mit 91 Punkten.

Anfang der siebziger Jahre waren Ziliani und Berlucchi noch Einzelkämpfer. Sie überredeten andere Gutsbesitzer, darunter komplette Neulinge auf dem Gebiet des Weinbaus, sich ihnen anzuschließen und statt Rot- und Weißwein Schaumwein anzubauen. Emanuele Rabotti nennt sie in Anlehnung an die ersten Siedler Neuenglands die Pilgerväter. Zu ihnen gehörten seine Eltern Paolo Rabotti und Paola Rovetta.

Liebt seine Reben: Emanuele Rabotti. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Versuche, im traditionellen Herstellungsverfahren dem Champagner Konkurrenz zu machen, gab es immer wieder. Georg Christian Graf Kessler, der bei Veuve-Cliquot Karriere gemacht hatte, brachte 1826 die Champagnermethode nach Deutschland. 1872 produzierte die Firma Codorníu erstmals in Katalonien Cava. Auch der französische Crémant wird in Flaschengärung erzeugt. Die Hersteller der Champagne wussten sich zu verteidigen und sorgten dafür, dass Champagne heute fast überall auf der Welt – außer neuerdings in Russland – als geschützte Ursprungsbezeichnung anerkannt ist. Das heißt: Nur Produkte, die in der gleichnamigen Region im Champagnerverfahren hergestellt werden, dürfen sich so nennen. Seit 1941 vertritt das Comité Interprofessionel du Vin de Champagne die Interessen seiner Mitglieder.

Papst Paul VI. war ein Cousin von Emanuele Rabottis Mutter. Ein Foto auf einer Kommode erinnert an den Pontifex. Foto: Steffi-Charlotte Christmann
Fresken schmücken die Villa des Weinguts Monte Rossa. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Die Winzer der Franciacorta übernahmen viele Prinzipien der Champagne. Schon 1967 führten sie ein Produktionsdisziplinar ein. Es wurde im Lauf der Jahre mehrmals verschärft und sieht heute eine längere Lagerzeit des Weins in der Flasche vor, als sie für andere Schaumweine weltweit vorgeschrieben ist. Sie gründeten 1990 analog zum Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne das Konsortium Franciacorta. Was den Ertrag pro Hektar betrifft, sei die Franciacorta rigider als die Champagne, erklärt Maurizio Zanella, langjähriger Präsident der Winzervereinigung (sein Nachfolger ist seit 2018 Silvano Brescianini, Leiter des Weinguts Barone Pizzini). Diese Strenge solle den „Aufbau von Kultur und Tradition beschleunigen, besonders angesichts des historischen Rückstands auf die Champagne“, so Zanella.

Festgelegt sind in den Reglements die Traubensorten, die gepflanzt werden dürfen, und die Pflanzdichte. Die Lese muss von Hand stattfinden, der Grundwein zunächst in Stahltanks und Barriquefässern reifen, während sich die vorgeschriebene zweite Gärung in der Flasche vollzieht. Die Mischungen der jeweiligen Cuvées sind genauso definiert wie ihre Reifezeiten. Der Basis-Franciacorta besteht aus Chardonnay, Pinot Noir und Pinot Blanc. Es gibt ihn als Non Dosato, also ohne Zugabe der auch beim Champagner gebräuchlichen zuckerhaltigen Fülldosage, sowie als Extra Brut und Brut. Er reift in der zweiten Gärung mindestens achtzehn Monate auf der Hefe. Die Mindestanforderung für Champagner beträgt fünfzehn Monate. Die Franciacorta-Variante Satèn entsteht aus mindestens fünfzig Prozent Chardonnay-Trauben sowie aus Weißburgunder. Ihre zweite Gärung in der Flasche muss mindestens vierundzwanzig Monate dauern. Der Jahrgangs-Schaumwein Millesimato besteht zu mindestens fünfundachtzig Prozent aus Weinen eines Jahrgangs von besonders hoher Qualität. Er verbleibt dreißig Monate auf der Hefe. Riservas müssen siebenundsechzig Monate, also fünfeinhalb Jahre, in der Flasche reifen.

118 Weingüter haben sich auf diese hohen Ansprüche verpflichtet. Heraus kommt ein Produkt, das trocken, feinperlig und aromatisch schmeckt, „aufgrund der südlichen Sonne aber weniger Säure als der Champagner aufweist“, wie Zanella selbstbewusst feststellt. Seit 1995 trägt die Region das Prädikat DOCG. Von Anfang an schrieben die Winzer Franciacorta als Ursprungsbezeichung auf ihre Etiketten.

Emanuele Rabotti mit der Prima Cuvée des Monte Rossa. Das Magazin Falstaff  lobte: „Komplexer Gaumen mit vielen Schichten, langanhaltend, im Finale salzig. Ein mächtiger Schluck Schaumwein.“ Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Vor ein Rätsel stellt Experten die Herkunft des Ortsnamens Franciacorta. Karl der Große soll dem Landstrich den Namen „kleines Frankreich“ – Petite France – gegeben haben, was so ähnlich klingen mag wie „kurzes Frankreich“ (Francia corta). Oder der Name rührt von den vielen Klosterhöfen der Region her, die für ihre Bewirtschaftung des Landes als Freihöfe von Abgaben befreit waren.

Ein anderes historisches Detail eignet sich als Gründungsmythos der Weinregion. Schon 1570 soll ein Arzt aus Brescia, Gerolamo Conforti in seiner Abhandlung Libellus de vino mordaci einen Schaumwein beschrieben haben. Das war hundert Jahre bevor der Benediktinermönch Dom Pérignon in der Abtei Hautvillers bei Épernay zum Wegbereiter des Champagners wurde. Das Terroir hat viele Besonderheiten. Ein Großteil des Gebiets geht zurück auf eine eiszeitliche Moräne, deren steinige Mineralität gute Schaumweine hervorbringt. Die Böden gelten als Mineralienbombe. Dank der nahen Alpen kühlen sich die Temperaturen nachts stärker ab als anderswo in Italien, vom Lago d‘Iseo weht eine kühle Brise. Der Kontrast zwischen heißen Tagen und kühlen Nächten ist vorteilhaft für die Weinqualität. Die Sonne sorgt für reife Frucht und Zuckergehalt, während kühle Nächte den Trauben ihre erfrischende Säure bewahren. Perfekte Bedingungen für erstklassige Weine, finden nicht nur Emanuele Rabotti und Maurizio Zanella. Auch anderswo auf der Welt gilt die Regel: Je höher die thermischen Schwankungen zwischen Tag- und Nachttemperaturen, desto besser die Weine.

„Die Böden gelten
als Mineralienbombe“

Emanuele Rabotti denkt sich für den Monte Rossa gern verspielte Marketingideen aus: so, wenn er Korken im Stil von Billardkugeln durchnummeriert und auf den Sammeleifer der Kunden setzt. Oder wenn er sich witzige Namen und Geschichten für seine Cuvées ausdenkt. Etwa für den Coupé. Rabotti ließ vom Comiczeichner Gigi Simeoni eine Geschichte zeichnen, in der seine Eltern und eine Flasche Coupé die Hauptrollen spielen. Und wer kann schon von sich behaupten, dass die eigene Mutter einen prominenten Cousin hatte, nämlich Paul VI. Auch heute soll Paola Rovetta gute Beziehungen zum Heiligen Stuhl unterhalten.

Beim Mittagessen auf dem Weingut in Bornato die Cazzago S. Marino, zu dem er eine Fernsehköchin eingeladen hat, erzählt Rabotti noch eine andere Geschichte. Er schildert, wie er sich 1992 mit Flaschen seiner damals neuen Cuvée Cabochon (ein Begriff, der eine Schliff-Form von Edelsteinen bezeichnet) auf eine Benefizparty von Frank und Barbara Sinatra in deren Villa im kalifornischen Palm Desert schmuggelte. Die Gelegenheit zu einem werbewirksamen Foto ließ er sich nicht entgehen. Es zeigt ihn als jungen Mann zusammen mit den Sinatras und einer der ersten Flaschen Cabochon mit dem Silberetikett, das der Mailänder Juwelier Buccellati entwarf.

Zum Glück stimmt auch die Qualität. Dem Weinführer Gambero Rosso hat es gerade der Zero-Dosage Coupé angetan. Zero Dosage bedeutet, dass Maschinen den Schaumwein nach der zweiten Gärung, wenn die Hefe degorgiert wurde, mit Wein ohne Zuckerzusatz auffüllen. „Diese auf der Basis von Chardonnay mit einem Schuss Pinot Noir erzeugte Cuvée ruht vor dem Enthefen drei Jahre lang auf der Hefe. Sie besitzt ein vielschichtiges und aufreizendes Bouquet mit einem ständigen Wechsel zwischen Frucht, Vanille und aromatischen Kräutern. Am Gaumen breit und schmackhaft, reich an Frucht und Geschmeidigkeit, im Ausklang betören elegante Noten von weißer Schokolade und Vanille“, urteilt das Weinstandardwerk. Der Gründer des Feinkostimperiums Eataly, Oscar Farinetti, nennt die Qualität der Weine von Monte Rossa spektakulär. Der Piemontese Farinetti, der auch in München eine Filiale von Eataly betreibt, ist mit 33 Prozent an Monte Rossa beteiligt.

Maurizio Zanella führt mit Ca’ del Bosco eines der bekanntesten Weingüter der Franciacorta. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Als Winzerlegende gilt Maurizio Zanella. Er gründete in den siebziger Jahren in der Gemeinde Erbusco das Weingut Ca’ del Bosco. Wer es betritt, hat den Eindruck, er betrete die Residenz eines Sonnenkönigs des Weines. Empfangen wird der Besucher von einem runden Tor aus Bronze mit dem Titel Hymne an die Sonne des italienischen Künstlers Arnaldo Pomodoro. Zur linken erstreckt sich ein Teich, in dem Störe schwimmen. Die bekam Zanella vom Kaviarhersteller Calvisius geschenkt, der fünfzig Kilometer weiter südlich in Calvisano auf 24 Hektar in Aquakulturen Störe züchtet und es zum drittgrößten Kaviarhersteller der Welt gebracht hat. Zanella findet, dass die beiden Exzellenzen der Region gut zueinanderpassen.

Die Zentrale von Ca’ del Bosco gleicht einem Freilichtmuseum. In die Wiese vor dem Hauptgebäude ist ein Heliport eingebaut, der umrahmt wird von Kunstwerken, so von einem überdimensionalen Gesichtsfragment aus der Werkstatt des polnischen Bildhauers Igor Mitoraj. Auf dem Dach der Kellerei wacht ein Rudel blauer Plastikwölfe, die blauen Wächter, über das Anwesen – ein Werk der Künstlergruppe Cracking Art Group. In einer Halle schwebt an der Decke ein Rhinozeros des italienischen Künstlers Stefano Bombardieri. Zwischen den Weintanks im Keller schwebt wie erstarrte Flüssigkeit die Skulptur Water in Dripping des chinesische Künstlers Zheng Lu.

Ca’ del Bosco gleicht einem Freilichtmuseum: Den Künstler Arnaldo Pomodoro überredete der Winzer, für den Eingang ein bronzenes Sonnentor zu gießen. Foto: Sandro Michahelles
Das Rhinozeros in der Kelterhalle ist ein Werk des Künstlers Stefano Bombardieri. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Anfang der sechziger Jahre erwarben Zanellas Eltern, Albano Zanella (Gründer der Speditionen Sittam und Gottardo Ruffoni) und dessen Frau Annamaria Clementi, am Rande von Erbusco ein Haus für drei Millionen Lire. Auf zwei Hektar Land schufen sie die Grundlage für das Weingut. Aufgrund seiner Lage hieß es Ca‘ del Bosco (Haus im Wald). Die Familie wollte dort eigentlich Gemüse für den Eigenbedarf anpflanzen, der Anbau von Reben spielte in ihren Plänen nur eine Nebenrolle. Ein Weingut zu besitzen, war damals in Italien noch nicht so angesagt wie heute. Und der Qualitätsanspruch war niedriger.

Wein, so Maurizio Zanella, „war in Italien bis in die siebziger Jahre dasselbe wie Reis in China: ein billiges Grundnahrungsmittel. Die meisten Leute besaßen nicht das Geld, Fisch oder Fleisch zu kaufen. Wein war ein Ersatz für Essen.“ Die Arbeiter tauchten ihr Brot schon zum Frühstück in eine Schale spottbilligen Barolos. „Der Weinkonsum der Italiener lag 1961 bei 190 Liter pro Person im Jahr“, erzählt er.  „Die Önologie lehrte nicht, wie man exzellente Qualität erzeugt, sondern wie man möglichst günstig große Mengen produziert“, erinnert sich Zanella. Rustikale Korbflaschen Chianti und aromatisierter Lambrusco traten ihren Siegeszug um die Welt an. Die große Weintradition, die bis zum Ersten Weltkrieg in Italien bestand, schien in Vergessenheit geraten zu sein. Das ging so weit, dass man, so Zanella, 1971 drei Flaschen Barolo für 990 Lire kaufen konnte, für umgerechnet einen halben Euro.

In dem Teich des schön angelegten Parks von Ca‘ del Bosco schwimmen Störe – Geschenk eines befreundeten Kaviarherstellers. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Eine Fortbildungsreise zu französischen Weingütern änderte alles. Zanella erfuhr, wie im Burgund die Trauben für den Spitzenwein Romanée Conti vorsichtig per Hand gelesen wurden, so dass sie nicht zerplatzten und ihr Aroma erhalten blieb. Sobald nämlich die Traube bei der Lese beschädigt wird, beginnt ihre Okzidation. Er sah, dass der Wein der Champagne in kleinen Barriquefässern heranreifte und nicht in den riesigen Betontanks seiner Heimat. Zanella beschloss, diese Tradition nach Italien zu holen. „Ich hatte Glück mit dem Timing. Fünf Jahre früher hätte den neuen Qualitätsanspruch niemand verstanden. Fünf Jahre später wäre ich die Nummer zweihundert gewesen.“ So aber wurde er zu einem der Wegbereiter einer Qualitätsoffensive, die er die italienische Weinrevolution nennt. 1979 holte er den Chef de Cave von Moët Chandon, André Dubois, nach Erbusco. „Seine Achtung vor dem Wein begann mit Kleinigkeiten. Er regte sich auf, wenn die Arbeiter mit schmutzigen Schuhen in den Weinkeller gingen“, erzählt Zanella. Dubois sprach nur Französisch, und so mussten die Mitarbeiter in jeder Hinsicht eine für sie neue Sprache lernen.

In diesen mächtigen Edelstahltanks erfährt der Ca‘ del Bosco seine erste Gärung. Foto: Sandro Michahelles
Schummrig schön: die Katakomben des Weinguts Ca‘ del Bosco. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Das Streben nach Qualität führte dazu, dass Ca’ del Bosco neue Techniken erfand: etwa den putzig Berry Spa genannten dreistufigen Schonwaschgang für Trauben, der unter anderem den Anteil an Schwefel auf ein Drittel des erlaubten Maximums reduziert. Die Pressung findet unter Zugabe von Stickstoff statt, um die Okzidation zu hemmen und die Qualität des Mostes möglichst lange zu erhalten. Die erste Pressung, die den kostbarsten und aromatischsten Grundwein ergibt, wird für die besten „Ca’ del Bosco“-Varianten verwendet, die Jahrgangs-Schaumweine Anna Maria Clementi Brut und Anna Maria Clementi Rosé sowie für die Cuvées Brut, Satèn und Dosage Zero. Die zweite Pressung fließt in die Einstiegsversion des Schaumweins. Den Wein aus der dritten Pressung verkauft Zanella anderen Produzenten.

Zanellas zweites Patent ist der erste Weinlift Italiens. Er sorgt dafür, dass der Wein ohne den Einsatz von Pumpen aus sechzehn Metern Höhe per Schwerkraft in einen gigantischen Stahltank sinkt, der dreitausend Hektoliter Wein fasst – das Äquivalent zu einer halben Million Flaschen. Durch Fenster kann der Besucher die Produktion von der Gärung bis zur Abfüllung verfolgen. Den Höhepunkt des Rundgangs durch stimmungsvoll ausgeleuchtete Korridore bildet ein überkuppeltes Gewölbe, von dem aus die Weinkeller in alle Richtungen abgehen. Hier schlummert der Ca‘ del Bosco – bis er degorgiert, verkorkt und mit Etiketten versehen wird. Den Rundgang durch die Katakomben flankieren Werke von Ikonen der Fotografie wie Helmut Newton, William Klein und Ralph Gibson, die Zanella über die Jahre hinweg einlud, hier zu fotografieren. Unverkennbar die Newton-Motive: Eine Gruppe Nacktmodelle erntet Trauben, picknickt im Gras und vergnügt sich frivol in den Weinkellern – ein sinnenfrohes Bacchanal in Schwarzweiß.

Herrliche Klöster prägen die Franciacorta: hier die Abbazia Olivetana di San Nicola in Rodengo-Saiano. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Zanella ist ein Unternehmer mit Phantasie, auch wenn es darum geht, Winzern unter die Arme zu greifen. Wer Schaumwein auf dem Niveau der Champagne produzieren möchte, der benötigt aufgrund des langen Wartens auf die ersten Resultate jahrelange Geduld und ein komfortables finanzielles Polster. Zanella überredete die einheimischen Banken dazu, ein System zu adaptieren, dass die Region des Parmigiano Reggiano erfolgreich praktizierte. Banken akzeptierten statt Immobilien und Grundbesitz das Endprodukt als Sicherheit für Kredite. Während rund um Parma die Hersteller ihre Käselaibe in Depots bringen, die den Banken gehören, dürfen die Winzer der Franciacorta ihre Flaschen in den eigenen Gewölben aufbewahren. Sie und das Konsortium führen gewissenhaft Buch über Lagerbestände sowie über Ein- und Ausgänge. Je größer die Vorräte, desto höher das Kreditvolumen. Sobald Vorräte abverkauft werden, wird zurückgezahlt.

Das Konsortium bestimmt auch, ob neue Flächen für den Weinbau ausgewiesen werden. „Im Moment sind die Lager gefüllt. Wenn sie sich leeren, müssen wir handeln“, erklärt Zanella. Maurizio Zanella ist einer der wenigen Winzer der Franciacorta, die neben dem Schaumwein respektablen Rot- und Weißwein produzieren: etwa den hochgelobten Maurizio Zanella Rosso del Sebino oder den in Barrique ausgebauten Weißwein Curtefranca. Als Zanella einmal seinen langjährigen Freund, den Textilfabrikanten Luciano Benetton, besuchte, sagte der: „Schau mal, was ich habe“ – und öffnete eine Flasche Curtefranca Bianco, Jahrgang 1985. Beide waren angetan davon, wie gut sich der Tropfen gehalten hatte. Die Schaumweine von Ca’ del Bosco erhalten regelmäßig Preise. 2019 wurde die Spitzencuvée Annamaria Clementi 2009 als bester Schaumwein Italiens ausgezeichnet.

Wie Emanuele Rabotti so fand auch Zanella 1994 einen kapitalstarken Partner. Anders als der Kollege war er bereit, dafür die Mehrheit an der Firma zu opfern. Ca’ del Bosco gehört heute über die Zignago-Holding zu sechzig Prozent der Familie Marzotto, die durch ihr Engagement bei Valentino und Hugo Boss auch in der Modewelt bekannt ist. 25 Prozent behielt Zanella, 15 Prozent seine Schwester Emanuela. Er stellte sicher, dass Grund und Boden in Familienbesitz blieben. An der Marzotto-Gruppe schätzt der Winzer, dass sie Expertise in Unternehmensführung und Finanzen einbringt.

Giorgio Oddi ist Kellermeister der Tenuta Montenisa. Seit 1999 ist das Weingut im Besitz der toskanischen Weindynastie Antinori. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Managementerfahrung holte sich auch das Weingut Montenisa in Calino ins Haus. Seit 1999 ist es im Besitz der Florentiner Weindynastie Antinori. Verantwortung für die Tenuta Montenisa tragen die Töchter Albiera, Alessia und Alegra Antinori. Das Gut hat illustre Vorbesitzer, so den Grafen Aymo Maggi. Der Bugatti-Fan gründete 1922 das Autorennen Mille Miglia, das jedes Jahr im Frühjahr im nahen Brescia startet und endet. Die Villa des Weinguts geht zurück auf die Renaissance. Die Wände sind mit herrlichen Fresken des Brescianer Malers Lattanzio Gambara bemalt.

Klassische Bildung verrät auch der Name des Anwesens. Monte Nisa war in der griechischen Mythologie der Berg, auf dem Nymphen den Weingott Dionysos aufzogen. Um die Qualität des Weins kümmern sich die Kellermeister Giorgio Oddi und Renzo Cotarella. Oddi, ein scheuer dunkelblonder Mann mit feinen Gesichtszügen, berichtet, dass sich die Tenuta Montenisa noch strengere Regeln auferlege als die übrige Franciacorta. Die Erträge der Reben würden streng beschränkt. Mit vierundzwanzig Monaten Hefelager für den Rosé und dreißig Monaten für den Weißen genössen die Schaumweine mehr Reifezeit, als es das Reglement der Region ohnehin vorschreibt. Für die Spitzencuvée Donna Cora Satèn verdoppelte Oddi die Reifezeit von den vorgeschriebenen 24 Monaten auf 48. Die Trauben würden „umweltschonend“ behandelt. Oddi erlaubt sich eine kritische Anmerkung zum Thema Bioweine. Nicht alles, was den Namen trage, verdiene ihn. Beim Waschen und Pressen der Trauben verschwänden Rückstände von Pestiziden fast automatisch oder mit wenigen Kunstgriffen, so dass sie nicht mehr nachweisbar seien. Er selbst habe das ausprobiert, als er aus reiner Neugier eine entsprechende Probe an das offizielle Labor der Unione Italiana Vini in Verona sandte. Oddi glaubt, dass Weinbau ohne Schädlingsbekämpfung eine Illusion sei: „Es sei denn, man akzeptiert häufige Missernten“, so Oddi.

Renaissance-Fresken schmücken den Palazzo Piccolo Maggi der Tenuta Montenisa. Sie stellen berühmte Frauen der römischen Antike dar. Foto: Steffi-Charlotte Christmann
Giorgio Oddi sagt: „Die Franciacorta bringt Weine hervor, die kraftvoll und fein sind – eine seltene Kombination.“ Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Typisch für die Schaumweine von Montenisa ist der höhere Anteil von Pinot Noir und Pinot Blanc. Sie verleihen dem Wein eine männlichere, kräftigere Note. Oddi rühmt, dass die Franciacorta „eine sehr glückliche Verbindung aus Böden und Klima“ biete. „Sie sorgt für Weine, die kraftvoll und fein zugleich sind – eine seltene Kombination.“ Innerhalb von zwei Quadratkilometern treten in der Franciacorta sehr unterschiedliche Böden auf. „Daher ist das Interessante an meinem Job, Sorten verschiedener Lagen zu mischen“, sagt der Önologe. Kritiker loben vor allem den schmackhaften Brut und den ausdrucksvollen Rosé von Montenisa. Mit 300 000 Flaschen gehört das Weingut zu den aufsteigenden Sternen der Franciacorta. Bei Antinori ist man sichtlich stolz auf die Akquise. Marchese Antinori steht groß und kursiv auf dem Etikett, die Tenuta Montenisa wanderte ins Kleingedruckte.

„ … eine sehr glückliche Verbindung
aus Böden und Mikroklima.“
– Giorgio Oddi, Önologe

Man kann sich in der Franciacorta tagelang von Weingut zu Weingut treiben lassen und zwischen Reben, charmanten Dörfern und historisch bedeutenden Klöstern erlesene Tropfen verkosten: Zu den Highlights auf der Route gehört Mosnel, das von den Geschwistern Giulio und Lucia Barzanò geleitet wird und auf 39 Hektar 250 000 Flaschen im Jahr produziert. Mosnel, ein 180 Jahre altes Weingut, gehörte zu den ersten Produzenten, die 1979 mit der Schaumweinproduktion in Flaschengärung begannen. Die Rebflächen gruppieren sich um die stolze Villa der Familie, in deren schönem Park eine riesige Libanonzeder steht. Dass auf steilen Hängen und steinigen Böden ein mineralischer Blanc de Blanc gedeiht, beweist das junge Weingut Le Cantorie in Gussago mit seinem vorzüglichen Satèn Armonia.

Ein international bekannter Name der Franciacorta ist der Unternehmer Vittorio Moretti, der hinter der renommierten Marke Bellavista steht und außerdem eine Baufirma und das Hotel Relais & Chateaux Hotel und Restaurant L‘Albereta in Erbusco sein eigen nennt. Von der Hotelterrasse hat man einen herrlichen Blick bis zum See. Auch die Waffendynastie Beretta, im Hinterland des Sees ansässig, besitzt ein Franciacorta-Weingut, Lo Spalviere. Sehenswert sind auch die oft bis auf die Renaissance zurückgehenden Villen der Weingüter. Zu den vornehmsten gehört der mit Marmor und Wandmalereien überbordende Palazzo Lana in Borgonato di Corte Franca. Die Vorfahren Guido Berlucchis ließen ihn erbauen und ausstatten. Vor mehr als fünfhundert Jahren soll Caterina Cornaro, die venezianische Königin Zyperns im Palazzo Lana zu Gast gewesen sein.

Die Geschwister Lucia und Giulio Barzanò leiten das Weingut Mosnel, eines der ältesten der Region. Foto: Franciacorta

Die Franciacorta ist auch ein Schlemmerparadies mit Michelin-Empfehlungen wie dem Zwei-Sterne-Restaurant Miramonti L‘Altro in Concesio, dem Meeresfrüchte-Restaurant Da Nadia in Castrezzato oder der Villa Aurora in Soiano. Einen Abstecher wert ist auch Stefano Cervenis kreative Küche im 1-Sterne-Restaurant Due Colombe in Borgonato di Corte Franca. Auch nebenan, in der Locanda Le Quattro Terre, wird köstlich und regional gekocht. Wir aßen dort cremiges Risotto mit Pozzolengo-Safran und Süßholzpulver und Störfilet mit Sardinensauce von Monte Isola.

Bleibt die Frage, ob es der Franciacorta – der Region – und dem Franciacorta – dem Schaumwein – gelingt, gegenüber dem Champagner aufzuholen. Ein Zeitvorsprung von Jahrhunderten lässt sich nicht in sechzig Jahren aufholen. Die Region ist auch deutlich kleiner als ihr französisches Pendant. In der Franciacorta betreiben 120 Weingüter aktuell 2800 Hektar DOCG-Rebfläche und verkauften 2019 17,5 Millionen Flaschen. In der Champagne bewirtschaften 360 Häuser und 16 200 Winzer 33 787 Hektar Fläche. Der Absatz lag bei 270 Millionen Flaschen. Die Coronakrise setzte jedoch allen ähnlich zu: In der Franciacorta schlug 2020 ein Minus von 11,4 Prozent zu Buche, in der Champagne wird der Verlust 2020 auf minus 17 Prozent beziffert.

Ein kleines Handicap mag sein, dass außerhalb Italiens viele italienischen Schaumwein mit Prosecco verbinden. Dass der Franciacorta in einer eigenen Liga spielt, muss sich noch überall herumsprechen. In Italien weiß man längst, was man an den Eigengewächsen hat. So erkor die Mailänder Fashion Week den Franciacorta schon vor Jahren zu ihrem offiziellen Schaumwein. Die Mailänder Scala ist eine Partnerschaft mit Bellavista eingegangen, und auch das Oldtimer-Autorennen Mille Miglia schenkt den prickelnden Edel-Italiener vom Lago d’Iseo aus. Bei Antinori stellt man zufrieden fest: „Die Italiener sind heute ein bisschen mehr Kenner und ein bisschen weniger Snobs, sie haben die Vorzüge der einheimischen, nach dem Metodo Classico erzeugten Schaumweine entdeckt.“

Vittorio Moretti ist mit seinem Schaumwein Bellavista einer der bekanntesten Namen der Franciacorta. Foto: Guglielmo de’Micheli

Nach der Coronakrise herrscht nun wieder Aufbruchstimmung in der Region: Emanuele Rabotti und seine Partner steckten sieben Millionen Euro in eine neue 8000 Quadratmeter große Kellerei in Barco di Cazzago. Die Zeichen stehen auf Wachstum. Und erstmals nach zwei Jahren laden die Weinproduzenten 2021 wieder zu einem Weinfestival ein. Es findet an den Wochenenden vom  11. und 12. und vom 18. und 19. September statt.

Der Ausblick vom Gut Le Cantorie. Die steinigen Böden am Steilhang bringen einen klaren und mineralischen Blanc de Blancs hervor. Foto: Steffi-Charlotte Christmann

Es wird auch ein Festival des Zusammenhalts sein. Denn obwohl alle Produzenten der Franciacorta für sich stehen und für ihre eigenen Marken werben, glauben sie daran, dass sie nur gemeinsam die Welt von ihrer schönen Region und ihren exzellenten Schaumweinen überzeugen können. Oder wie es ein Produzent auf unserer Reise bekannte: „Wir inspirieren uns gegenseitig und geben uns Tipps. Wir sind ein kleines Anbaugebiet. Wenn wir nicht zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen, dann haben wir in der Welt da draußen keine Chance.“

© Holger Christmann

 

Franciacorta Festival

11./12. September sowie 18./19. September 2021: 67 Hersteller, darunter Ca‘ del Bosco, Monte Rossa und die Tenuta Montenisa, öffnen ihre Türen. Daneben gibt es kulinarische Events, Kulturführungen und Livekonzerte.  www.festivalfranciacorta.it

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