Debatte
„Rückfall in nationalstaatliche Ideologien“
Von Nigeria bis Griechenland fordern Staaten Kunst zurück, die auf ihrem Territorium entstand. Sollen europäische Museen diesen Forderungen nachgeben? Jochen Griesbach-Scriba, Direktor der Antikensammlung des Würzburger Martin-von-Wagner-Museums, sieht im FEATURE-Interview in so manchen Restitutionsansprüchen einen Ausdruck identitärer Politik, die längst als überwunden galt.
VON HOLGER CHRISTMANN
23. Februar 2023
Die Kunst vom Parthenon ist seit langem ein Zankapfel zwischen Griechenland und anderen europäischen Museen. Im Mittelpunkt des Streits steht das British Museum in London (u.l. im Bild). Illustration: Steffi Christmann (m. Fotos v. British Museum London, Martin-von-Wagner-Museum Würzburg, Mohammed Zar).
Jede Gemeinschaft habe ein Recht auf ihr Kulturerbe. Mit diesem Argument forderte 2022 Eleni Vassilika, ehemalige Direktorin des Roemer- und Pelizaeus-Museums in Hildesheim, die Rückgabe der Parthenonskulpturen aus dem British Museum an Griechenland. Der italienische Archäologe Mario Trabucco della Torretta warf ihr daraufhin eine „athenozentrische Sicht auf die griechische Welt“ vor, von der sich Archäologen und Althistoriker längst befreit hätten. Die Debatte über die Parthenonskulpturen wird derzeit wieder so hitzig geführt wie in den 1980er-Jahren, als die griechische Kulturministerin Melina Mercouri emphatisch die Repatriierung der Kunstwerke forderte. Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin (1766–1841), britischer Botschafter in Konstantinopel, hatte den Bauschmuck aus dem 5. Jahrhundert vor Christus Anfang des 19. Jahrhunderts mit Genehmigung der osmanischen Kolonialmacht vom größten Tempel der Akropolis entfernen und nach England verschiffen lassen. Seither sind die Elgin Marbles ein Zankapfel zwischen Athen und London. Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hat die Repatriierung der Marbles ganz oben auf seine Agenda gesetzt. Doch Kunst vom Parthenon findet sich nicht nur in London, sondern auch im Pariser Louvre, im Kunsthistorischen Museum zu Wien, in der Münchner Glyptothek und im Würzburger Martin-von-Wagner-Museum. Es ist nach Johann Martin von Wagner (1777–1858) benannt, dem in Rom lebenden Kunstagenten des bayerischen Königs Ludwig I.. Er vermachte der Universität seiner Geburtsstadt neben viel Geld einen Kentaurenkopf vom Parthenon. Griechenland forderte auch dieses Fragment zurück. Jochen Griesbach-Scriba, Direktor der Antikensammlung des Museums und Dozent am Lehrstuhl für Klassische Archäologie der Julius-Maximilians-Universität, sieht in diesem und anderen Restitutionsansprüchen einen Rückfall in identitäre Politik, die längst als überwunden galt. Dabei werde nicht gefragt, wofür das Parthenon wirklich stehe. In Wahrheit sei es kein Symbol einer griechischen Nation, die es damals noch nicht gegeben habe, sondern Ausdruck der Hegemonialmacht Athen, die sich ihre Monumente gerade in der Zeit des Perikles nur allzu gern von Vasallen finanzieren ließ.
FEATURE: Was halten Sie davon, dass erneut Forderungen nach Rückgabe der Parthenonskulpturen aus dem British Museum an Griechenland laut werden – nicht nur von griechischen Politikern, sondern auch aus der Wissenschaft.
Jochen Griesbach-Scriba: Als Museumsdirektor bin ich nicht unglücklich über die Diskussion. Unser Museum verschwinden ein wenig im Weltkulturerbe der Würzburger Residenz. Als universitäres Institut spielen wir auch im Reigen der staatlichen Museen nicht wirklich mit. Eine Debatte um die Parthenonskulpturen bedeutet für uns Publicity, die ich gerne mitnehme. Das ist meine Sicht als Abteilungsdirektor. Als Wissenschaftler und als Zeitgenosse habe ich einen anderen Blick auf das Thema.
FEATURE: Der wäre?
Jochen Griesbach-Scriba: Das ist eine komplexe Geschichte, die bei mir verschiedene Saiten zum Klingen bringt. Ich habe viele griechische Freunde und fühle mich dem Land verbunden. Ich kann die emotionale Seite der Restitutionsforderungen nachvollziehen. Aber ich kann sie rational nicht gutheißen, denn zu offensichtlich geht es dabei nicht um rationale wissenschaftliche Argumente, es geht um Politik.
„Es geht um identitäre Politik und Nation Building“
FEATURE: Geht es nicht darum, dass die Griechen ein nationales Symbol nach Hause holen möchten? Kann man ihnen das verdenken?
Jochen Griesbach-Scriba: Der berühmte Satz der griechischen Kulturministerin Melina Mercouri, wonach der Parthenon die Seele der Griechen widerspiegele, erschließt sich mir historisch nicht. Der Parthenon ist der Haupttempel der Polis Athen. Sein berühmter Fries stellt das höchste religiöse Fest des antiken Athens dar, die Prozession der Panathenäen. Die Athener, Fußvolk, Reiter und Wagenlenker, pilgern zu einem Standbild der Göttin Athene, der Beschützerin Athens, um diesem ein neues Gewand darzubieten. Athen hat diesen Tempel gebaut, Gelder aus der Kriegskasse des Attisch-Delischen Seebundes missbrauchend, und hat in gewisser Weise den Griechen einen Führungsanspruch aufgezeigt, aber sicherlich nicht einen panhellenischen Gedanken verfolgt, sondern einfach nur gesagt: Wir sind die Hegemonialmacht in diesem großen Verbund von Poleis innerhalb der Ägäis-Welt. Wo ist dieses Gebäude ernsthaft ein Symbol der griechischen Nation? Erstens gab es zu diesem Zeitpunkt keine griechische Nation, zweitens haben die Athener, als sie dieses Gebäude bauten, ganz sicher nicht den Gedanken verfolgt, ein Gebäude für alle Griechen zu bauen. Auch der Bildschmuck spricht nur von Athen. Der Parthenon ist also vor allem ein Symbol Athens. Dass er heute als Bauwerk gilt, das Griechenland insgesamt vertritt, hängt mit der Geschichte des Tourismus und der Neugründung Griechenlands zusammen, an der das Königreich Bayern mitwirkte.
Sieht Restitutionsforderungen aus Griechenland skeptisch: Jochen Griesbach-Scriba, Direktor der Antikensammlung des Martin-von-Wagner-Museums in Würzburg. Foto: privat
FEATURE: Sie spielen darauf an, dass der erste König des unabhängigen Griechenlands, Otto I (1815–1867), ein Wittelsbacher und Sohn des bayerischen Königs Ludwig I. war. Ottos Architekt Leo von Klenze propagierte in seiner Rede auf der Akropolis 1834 den Wiederaufbau der klassischen Architektur und die Entfernung aller Überreste des Barbarentums.
Jochen Griesbach-Scriba: Genau. Und wenn es in Nord- und Mitteleuropa nicht den Klassizismus gegeben hätte, wenn es nicht diese starke ideologische Sicht auf den Wert von Kunst gegeben hätte, wonach der Parthenon der Dreh- und Angelpunkt des menschlichen Kunstschaffens sei, würden wir heute nicht darüber reden. In Griechenland hat zur selben Zeit darüber niemand nachgedacht. Die Osmanen haben sich für das klassische Erbe Griechenlands nicht interessiert, die Griechen damals entweder auch nicht oder sie hatten nicht die Möglichkeit, zu intervenieren.
FEATURE: Heute entdeckt die Forschung andere Epochen wieder …
Jochen Griesbach-Scriba: Schon seit dem Fin de Siècle wird die Vorreiterrolle der griechischen Hochklassik massiv in Frage gestellt. Aktuell wird hinterfragt, warum die Weltgeschichte und die der Kunst immer eine abendländische sein muss. Gleichzeitig will man aber diese identitäre Politik vorantreiben. Das ist für mich ein Widerspruch. Wenn man tiefer einsteigt, sieht man, wie verzettelt das alles ist. Die Restitutionsforderungen kreisen weniger um Wissenschaft als um Status und Nation Building. Das ist nachvollziehbar, aber von wissenschaftlicher Seite kann das keine Unterstützung finden.
Ist Griechenlands Wissenschaft längst weiter als die Politik?
FEATURE: Interessieren sich auch griechische Forscher heute für Epochen vor und nach dem klassischen Griechenland des 5. Jahrhunderts vor Christus?
Jochen Griesbach-Scriba: Es gibt ein großes griechisches Interesse an der Bronzezeit, an den Wurzeln der griechischen Kultur. Was langsam aufbricht, ist auch das aus der Winckelmannschen Ära stammende Herabschauen auf die späteren Jahrhunderte. Lange haben sich griechische Kollegen nicht für die römische Geschichte in Griechenland interessiert. Es war ja sowieso klar, schon antike Autoren hatten es geschrieben, dass zu dieser Zeit keine Kunst mehr entstanden ist. Griechen empfanden sie als peinliches Kapitel der Geschichte, weil man in dieser Epoche fremdbestimmt war. Heute reicht das Forschungsinteresse bis in die Spätantike. Mit ihr sind wissenschaftlich viele spannende und ungelöste Fragen verbunden. Einerseits die Beibehaltung einer eigenen Formensprache und anderer kultureller Konventionen – zum Beispiel hinsichtlich der Kleidung – unter einer fremden Suprematie, andererseits die Konfrontation mit der römischen Selektion und Ausdeutung älterer griechischer Kunstwerke; schließlich im 4. Jh. nach Christus die Verlagerung der Hauptstadt nach Konstantinopel, die wiederum einen neuen Mix von westlichen und östlichen Traditionen hervorbrachte. Dieses Sich-Öffnen wissenschaftlicher Neugier findet auch in Griechenland statt, und das finde ich sehr positiv.
Frontalansicht des Kentaurenkopfs von Südmetope 5 des Parthenon im Würzburger Martin-von-Wagner-Museum. Erst allmählich kommt Licht die ungeklärte Frage, wie der Namensgeber des Universitätsmuseums in den Besitz des Marmorfragments kam. Foto: Martin-von-Wagner-Museum
FEATURE: Das Martin-von-Wagner-Museum besitzt ein wertvolles Fragment vom Parthenon, einen Kentaurenkopf. Welche Bedeutung hat er kunsthistorisch?
Jochen Griesbach-Scriba: Er ist für uns aus didaktischen Gründen sehr spannend. Er ist ein ganz besonders Objekt, um an antike Kunst heranzuführen. Zuerst würde man denken, man hat einen Kopf eines attischen Grabreliefs vor sich, wo man oft Greise im Profil sieht. Erst wenn man genau hinschaut, sieht man, dass es Unstimmigkeiten gibt, die von dieser Interpretation wegführen: dass er den Mund offen hat, dass er die Zähne fletscht, dass seine Nasenwurzel kontrahiert ist. Das sind erste Hinweise darauf, dass hier kein alter, würdevoller Greis dargestellt ist, sondern dass hier die Selbstbeherrschung verlorengeht. Am Ende des 19. Jahrhunderts gelang es dem Dresdner Archäologen Georg Treu, das richtig einzuordnen und vor allem zu erkennen, dass dieser Kopf nicht nur stilistisch zum Parthenon gehören muss, sondern dass er an die Metope 5 auf der Südseite des Parthenons passt, die sich bezeichnenderweise in London befindet und nicht in Athen. Anhand von Gipsabgüssen – Archäologen arbeiten seit Jahrhunderten mit solchen Kopien – ließ sich das zweifelsfrei nachvollziehen. Der Gips hängt nach wie vor bei uns vor dem Entree, als Signet dieser Wiederentdeckung, dass der Kopf an die Metope gehört. Kunsthistorisch wichtig daran ist, dass er zu einem großen Set von Bilderserien gehört, welche in unterschiedlichen mythologischen Kontexten die Kämpfe zwischen Naturwesen oder Barbaren gegen zivilisierte Griechen thematisieren und damit nach aktueller Interpretation Ausweis des Konflikts zwischen Zivilisation und Wildheit, oder, wenn man es noch grober sagen will, des Kampfes von Gut gegen Böse sind. Die wichtige politische Botschaft an diesem Sakralgebäude lautete, dass Athen sich ganz vorne sah in diesem Kampf.
Seitenansicht des Würzburger Kentaurenkopfs. Foto: Martin-von-Wagner-Museum
FEATURE: Auch den Kentaurenkopf in Ihrem Museum hat Griechenland zurückgefordert. Sie haben eine Restitution abgelehnt. Mit welcher Begründung?
Jochen Griesbach-Scriba: Das ist ein Missverständnis. Solche Forderungen landen nicht auf meinem Schreibtisch. Weil sie ein politisches Thema sind, ist das Kultusministerium zuständig. Ich erhalte einen Durchschlag der Antwort des Ministeriums an die Kommission zur Rückführung der Parthenonskulpturen. Den Anfragebrief kenne ich nicht. Ich hätte ihn gerne, aber bisher habe ich ihn nicht bekommen. Mich würde es interessieren, wie da im Detail argumentiert wird. Ich kenne aber die Argumentation der bayerischen Seite, und die beruft sich auf die Stiftungsurkunde Martin von Wagners, in der steht, dass seine Sammlung nicht veräußert werden darf. Dafür wäre nach meinem simplen Verständnis juristischer Vorgänge die Voraussetzung, dass von Wagner den Kentaurenkopf rechtmäßig erworben hat.
FEATURE: Wie kam der Kopf in Ihre Sammlung? Hat Wagner, so wie Lord Elgin, Handwerker und Künstler beschäftigt, die dem Parthenon mit Sägen, Hammern und Meißeln zu Leibe rückten?
Jochen Griesbach-Scriba: Der Kopf war nachweislich schon 1674 nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz am Gebäude. Das zeigt eine Zeichnung von Jacques Carrey. Wahrscheinlich lag er in der Umgebung des Tempels im Schutt. Über die Verbringung nach Bayern wussten wir bis zu diesem Jahr gar nichts. Sie fragen mich genau in dem Moment, wo wir endlich Licht in die Sache bringen. Bislang glaubte man, dass Martin von Wagner den Kentaurenkopf besessen habe, selbst aber gar nicht geahnt habe, was er in Händen hält. Seit zwei, drei Monaten müssen wir diese Einschätzung revidieren. Von Wagner wusste sehr genau, was er da besaß.
Der Stifter verschwieg die Provenienz vom Parthenon
FEATURE: Wie haben Sie das nach so langer Zeit herausgefunden? Haben Sie neue Quellen aufgetan?
Jochen Griesbach-Scriba: Es sind noch viele Fragen zu klären. Aber aus der Korrespondenz Wagners wissen wir jetzt, dass er das Fragment 1833 von seinem Schwager, der im Dienst des bayerischen Königs in Griechenland tätig war, zugespielt bekam. In einem Brief ist ganz eindeutig davon die Rede, dass der Kopf nicht nur von der Akropolis stammt, sondern dass er zum Tempel der Athena gehörte. Für uns ist jetzt die spannende Frage, warum Wagner das nicht sichtbar gemacht hat. Wir haben den Kopf, wie so vieles, über seinen Nachlass bekommen. Wagner hatte in Rom gelebt. Am Ende seines Lebens vererbte er der Universität sehr viel Geld und große Teile seiner Sammlung. Die wurde von Rom über die Nordsee bis nach Würzburg verschifft. Es gibt eine Auflistung, die zu seinen Lebzeiten entstanden ist. Da ist nur von einem älteren bärtigen Männerkopf die Rede. Das ist auch für seine Zeit schon sehr untertrieben. Da hätte er ruhig daneben schreiben können, dass das ein Stück vom Parthenon ist. Wollte er die Provenienz verschleiern? Dem müssen wir jetzt nachgehen. Bisher dachten wir, den juristischen Fall gibt es nicht, weil wir geschätzt haben, dass der Kopf vor der Gründung Griechenlands in den Besitz von Wagner gekommen ist. Jetzt wissen wir, dass das nicht der Fall ist und müssen klären: Wie sah das aus am Anfang des griechischen Staates? Hätte Otto I. eine Verfügungsgewalt gehabt über das kulturelle Erbe Griechenlands? Hätte er etwas aus Griechenland verschenken dürfen? Oder war das zu diesem Zeitpunkt schon heikel? Wenn wir hier neue Kenntnisse gewännen, könnte das von Wagner entlasten oder den Erwerb in ein neues Licht rücken.
Junge Kavalleristen versuchen auf dem Parthenonfries, ihre Pferde zu bändigen. Die Szene ist Teil des berühmten Parthenonfrieses, von dem ein Großteil im Besitz des British Museum ist. Griechenland fordert die fehlenden Teile seit langem zurück. Foto: Adobe Stock/Trustees of the British Museum
FEATURE: Es überrascht schon etwas, dass nach bald 200 Jahren der Briefwechsel Martin von Wagners mit dem bayerischen König nicht vollständig bearbeitet wurde. Was weiß man über einen möglichen Kontakt zwischen Lord Elgin und von Wagner? Kannten sich die beiden?
Jochen Griesbach-Scriba: Dem müssten wir nachgehen. Meines Wissens nach kannten sie sich nicht. Elgin war Diplomat, er spielte in einer anderen Liga und verkehrte in anderen Kreisen als von Wagner, der als wichtigster Kunstagent des bayerischen Königs Gewicht hatte in der Kunstszene, aber nicht unbedingt auf politischem Parkett agierte. Aber wir sind auch an dieser Frage dran. Wir stellen in absehbarer Zeit einen Akademieantrag, um den schriftstellerischen und zeichnerischen Nachlass Wagners zu erschließen. Es ist unglaublich, aber nach so langer Zeit ist das immer noch nicht adäquat passiert. Wir verwahren in Würzburg die Briefe des bayerischen Königs und anderer Zeitgenossen an Wagner. Die sind noch gar nicht ediert.
FEATURE: Wann werden Sie die erforscht haben?
Jochen Griesbach-Scriba: Wir hoffen, das in den nächsten zwanzig Jahren hinzubekommen. Dann können wir wahrscheinlich auch die Frage beantworten, ob von Wagner mit Lord Elgin in Kontakt war.
FEATURE: Im Juni kehrte das Fagan-Fragment aus dem Antonino-Salinas-Museum in Palermo nach Athen zurück, ein 35 mal 31 Zentimeter kleines Stück vom Unterschenkel und vom Gewand der Göttin Artemis, die sitzend den Panathenäischen Zug und die Übergabe eines neuen Gewandes (Peplos) an Athene bezeugt. Italienische und griechische Museumsvertreter und Kulturpolitiker feierten die Rückgabe an das Akropolis-Museum als „Wiedervereinigung“. Fühlen Sie sich durch solche Gesten moralisch unter Druck gesetzt?
Jochen Griesbach-Scriba: Nicht wirklich. Auch das ist Politik. In bestimmten Zeiten und unter idealen Umständen stellt ein Museum eine Kalkulation an: Was kann Palermo gerade einen veritablen Vorteil verschaffen? Man kann sich dann leicht von etwas trennen, das vielleicht nicht so wahnsinnig wichtig ist innerhalb des Bestands. So war es, als die Universität Heidelberg 2006 ein kleines Beinfragment vom Parthenon zurückgab. Das Heidelberger Fragment besaß anders als unser Kentaurenkopf nicht viel Vermittlungswert. Da ist es recht und billig, zu sagen: Wir bringen uns damit in die Schlagzeilen und setzen humanistische Ideale in die Tat um. Aber welcher Besucher nimmt denn im Akropolis-Museum, das ich liebe und das ganz phantastisch ist, diese Fragmente im Gesamtensemble wirklich wahr?
„Warum fragt keiner nach den griechischen Vasen?“
FEATURE: Da wären die Elgin Marbles eine andere Hausnummer.
Aber selbst da würde ich sagen: Ist es wirklich das Problem des Akropolismuseums, dass es nicht genügend Testimonien der antiken Kulturgeschichte seines Landes zeigen kann? Würde man den Wert des Museums erheblich steigern, wenn die Elgin Marbles dort stünden? Und wenn wir den Gedanken weiterspinnen: Wäre Griechenland ein anderes Land und besser aufgestellt in der Welt, wenn alle Kunstprodukte, die das Land hervorgebracht hat, in Griechenland wären? Warum ruft keiner nach den griechischen Vasen? Die sind fast alle in Italien und anderswo auf der Welt verstreut. Soll man das alles nach Griechenland zurückbringen, und was hat Griechenland am Ende davon gewonnen? Um es auf unsere Situation zu übertragen: Hat es für Griechenland nicht am Ende einen größeren Wert, dass sich dieser kleine Kentaurenkopf, ein Splitter des Parthenons, bei uns befindet und wir darüber sprechen, wie großartig das antike Griechenland war und wie viel wir davon lernen können? Aus meiner Sicht sind diese Kunstwerke ständige Vertretungen der antiken Kultur. Sie erfüllen im Exil einen positiven Zweck, der Griechenland extrem zugutekommt.
Unser täglicher Kampf besteht ohnehin eher darin, junge Menschen überhaupt für das antike Griechenland zu begeistern. Nicht weil sich junge Menschen per se nicht für die Antike interessieren, sondern weil unsere Kulturpolitik schon lange versucht, diese alten Bärte abzuschneiden, in dem Glauben, dass das etwas Überkommenes ist und alte Ideologien bedient. Das ist mein eigentliches Problem im Alltag und viel leichter in den Griff zu bekommen, wenn ich an Originalmaterial zeigen kann, wo der Bildungswert in diesen Stücken liegt. Originale wecken eine andere Neugier als Bilder, die ich an die Wand werfe.
Sehnsuchtsort von Griechen und Menschen aus aller Welt: Die Akropolis mit dem Parthenon, dem beherrschenden Tempel des heiligen Hügels. Foto: Mohammed Zar
FEATURE: Was hören Sie von griechischen Archäologen zu dem Thema?
Jochen Griesbach-Scriba: Es ist noch nie ein griechischer Kollege auf mich zugekommen und hat gesagt: Jetzt gebt uns doch endlich diesen Kopf wieder. Und auch London fragt mich nicht, ob ich nicht endlich mal den Kopf hergeben möchte, der ja zu ihrer Metope im British Museum gehört. Das beschäftigt uns nicht, denn wenn wir über das Objekt und damit über intrinsische Bildungsfragen sprechen, stellt sich Repatriation nicht als Problem. Außerdem sind griechische Forscher hier jederzeit willkommen, auch der Austausch beim Thema Bildrechte, einer wichtigen Einkommensquelle unseres Museums, funktioniert reibungslos.
FEATURE: Das heißt, Sie stellen generell Restitutionen im Zusammenhang mit dem Parthenon in Frage?
Jochen Griesbach-Scriba: Nicht grundsätzlich. Es gibt die legale Komponente. Wo etwas illegal außer Landes gebracht worden ist, stellt sich die Restitutionsfrage in anderer Schärfe, als wenn das nachweislich nicht der Fall ist. Wenn wir über Länder sprechen, die aufgrund eines Krieges ihres kompletten kulturellen Erbes beraubt worden ist, finde ich die Frage sehr opportun, ob man diesem Land nicht zumindest Teile zurückgibt und es in die Lage versetzt, seinen eigenen Nachwuchs entsprechend zu bilden. Griechenland aber ist ein vollgültiger Partner der Europäischen Union, es ist auch bildungstechnisch nicht zurückstehend, wir müssen da nicht Erste Hilfe leisten. Wie sind alle Partner in Europa und können uns verständigen.
FEATURE: Dennoch sagen Sie, dass man den Fall des Kentaurenkopfs im Licht der neuen Erkenntnisse neu bewerten müsste.
Jochen Griesbach-Scriba: Die Archivfunde können die moralische Frage in ein anderes Fahrwasser bringen, wenn ich den Eindruck gewinne, dass unser wunderbares Fragment vom Parthenon klammheimlich aus Griechenland entführt wurde. Dann finde ich, dass sich der Freistaat Bayern damit neu beschäftigen sollte. Für mich wäre es dann Diebstahl, selbst wenn die Tat nicht mehr justitiabel wäre. Im Moment stellt sich diese Frage nicht. Mich beschäftigen auch andere Themen viel mehr: Wo wollen wir hin? Wollen wir uns im dritten Jahrtausend nach Christus mit nationalstaatlichen Ideologien herumschlagen, oder haben wir uns nicht eigentlich schon weitergewähnt und wollen in modernere Zeiten aufbrechen? Im Moment scheinen die Weltläufte das Rad mit großer Gewalt rückwärts drehen zu wollen. Aber ich habe die Hoffnung, dass das eine Episode bleibt und dass wir vorwärtsschauen können und uns weitaus dringenderen Fragen zuwenden können als der, wo welches Kunstwerk steht.
FEATURE: Vielen Dank für das Gespräch.
© Holger Christmann