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Putins Krieg gegen den Westen

Wer ist Wladimir Putin? Und wie tickt die Clique, die Russland regiert? Die britische Wirtschaftsjournalistin Catherine Belton ist tief in „Putins Netz“ vorgedrungen. Sie hat Menschen zum Reden gebracht, von denen man soviel Offenheit nicht erwartet hätte. Damit ist ihr das Buch des Jahres gelungen.

VON HOLGER CHRISTMANN
25. April 2022
Sie gehören zu Wladimir Putins Netz (v.l.): Gennadi Timtschenko (Mitgründer des auf Zypern registrierten Mineralölkonzerns Gunvor), Arkadi Rotenberg (Bauunternehmer), Konstantin Malofejew (Investor und Gründer der Stiftung St. Basilius der Große), Igor Setschin (Vorstandschef von Rosneft) und Oligarch Roman Abramowitsch. Der amerikanische Präsident Donald Trump profitierte mehrfach von russischer Unterstützung. Illustration: Steffi Christmann (mit Fotos von Kreml, Keystone, Tass)

Aufgrund des gnadenlosen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat der Westen scharfe Sanktionen gegen Russland verhängt. Auch gegen russische Oligarchen verhängten EU und Vereinigte Staaten Vermögenssperren und Einreiseverbote. Doch wie funktioniert das System Putin? Und wie wirken der russische Präsident und die Oligarchen zusammen? Diese Fragen hat noch niemand so investigativ durchleuchtet wie es Catherine Belton in ihrem Buch Putins Netz tut. Die Autorin war Moskau-Korrespondentin der Financial Times und ist heute in London bei Reuters beschäftigt. Mehrere Jahre hat sie für ihr Buch recherchiert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Putin’s People, wie es im Original heißt, ist 600 Seiten stark, dazu kommen 80 Seiten wertvoller Fußnoten. 

Belton brachte Leute zum Sprechen, die zum engsten Kreis des russischen Präsidenten gehörten oder noch immer zählen: Oligarchen und Leuten aus deren Umkreis, Kreml-Mitarbeiter und Banker, russische Geheimdienstler und ehemalige Stasi-Offiziere. Sie bekam Einblick in vertrauliche Geschäftskorrespondenzen, vertiefte sich in Protokolle von Untersuchungskommissionen in Russland, der EU, Großbritannien und den Vereinigten Staaten.

Auf Basis dieses reichen Materials malt sie das Bild eines gefährlichen Mannes und eines korrupten, brutalen Systems. In diesem Apparat zählen nur wenige Dinge: die vollständige Kontrolle einiger Weniger über die Bodenschätze Russlands, das Vorrecht, die Erträge aus diesen Ressourcen zu nutzen – sei es für privaten Luxus oder für staatliche Operationen im In- und Ausland, drittens der unbedingte Machterhalt. Der wird gewährleistet durch Wahlfälschungen, die Ausschaltung jeder echten Opposition in Presse und Politik und durch Auftragsmorde. Darüber hinaus führen Putin und seine Silowiki (die Geheimdienstler im Kreml) Belton zufolge seit zwei Jahrzehnten einen geheimen Krieg gegen den Westen. 

Putins Rolle in Dresden

Belton steigt tief in Putins Vergangenheit ein und fördert dunkle Geheimnisse zutage. Der junge Putin träumte davon, Geheimagent nach dem Vorbild Max Otto von Stierlitz‘ zu werden, einer Art russischer James Bond. Nach dem Jurastudium gelang ihm die Aufnahme in das Yuri-Andropopow-Rotbanner-Institut, eine Ausbildungsstätte für Auslandsagenten. Sein erster Einsatz führte ihn 1985 nach Dresden. Weil die Stadt an der Elbe weit entfernt von den Augen und Ohren westlicher Geheimdienste war, konnte der KGB dort ungestört agieren. Außerdem war Dresden der Sitz von Robotron, dem größten Elektronikhersteller in der DDR. Der Betrieb spielte eine zentrale Rolle bei den Versuchen der Sowjets und der DDR, sich illegal Zugang zu westlichen Hightech-Komponenten zu verschaffen. Ein Großteil des ostdeutschen Technologieschmuggels lief über Dresden ab. 

Die Autorin räumt mit der Mär auf, dass Putin in Dresden nur ein kleines Licht gewesen sei. Der KGB hatte in Ostdeutschland das Sagen. „Ohne Absprache mit den Sowjets konnte die DDR gar nichts tun“, berichtet ein Stasi-Überläufer. Auch Putin sei als Anführer aufgetreten, und ein Stasi-General habe seinen Befehlen gehorcht, das berichtet ein ehemaliges Mitglied der westdeutschen Terrororganisation RAF. Hier kommt Belton zu einem der brisantesten Geheimnisse aus Putins Vergangenheit.

In der KGB-Residentur in Dresdens Angelikastraße soll die dritte Generation der RAF ein und ausgegangen sein. Ein halbes Dutzend mal sei seine Gruppe dort gewesen und habe dort Geld und Waffen für Anschläge in Westdeutschland erhalten. Wladimir Putin habe an diesen Treffen teilgenommen. Ein Attentat, das noch in Putins Dresdner Zeit fiel, war der Mordanschlag auf den charismatischen Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen.

Am 30. November 1989 gegen 8:30 Uhr fuhr Herrhausens Konvoi in Bad Homburg durch eine Infrarotschranke, die den Zünder einer mit 7-Kilogramm Sprengstoff gefüllten Bombe auslöste. Diese durchschlug die Panzerung von Herrhausens Limousine. Der Anschlag war mit militärischer Präzision ausgeführt worden, die verwendeten Mittel waren von höchster Qualität. Westliche Sicherheitskreise waren überzeugt, dass ein ausländischer Staat hinter dem Attentat stand. Das ehemalige RAF-Mitglied gab zu Protokoll: „Ich weiß, dass das Ziel aus Dresden vorgegeben wurde, nicht von der RAF.“ Als Belton einen ehemaligen KGB-Kontakt von Putin im Kreml auf dieses Kapitel in Putins Geschichte anspricht, rät der ihr davon ab, nach Beweisen zu suchen. 

Im Februar 1990 kehrte Putin nach Russland zurück. Vorher habe er laut Belton in Dresden sämtliche Dokumente über die Zusammenarbeit zwischen Stasi und KGB in einer Grube mit Napalm verbrennen lassen. 

Der KGB hatte schon Mitte der 1980er Jahre damit gerechnet, dass es zu einem Systemwechsel kommt und war auf die Wende gut vorbereitet. Große Summen an Devisen waren im Rahmen der Operation Lutsch (Strahl) vorsorglich auf schwarze Kassen im Westen transferiert worden, um dem KGB-Netzwerk auch nach dem Ende des Kommunismus genug Einfluss zu sichern. Belton räumt auch mit der Legende auf, sein ehemaliger Jura-Professor Anatoli Sobtschak habe Putin freiwillig als Berater in die Leningrader, nachher Petersburger Stadtverwaltung geholt.

Korrupte Geschäfte
in Sankt Petersburg

Putin sei vielmehr vom KGB als Sobtschaks Aufpasser installiert worden. Franz Sedelmayer, ein Bayer, der Anfang der 1990er Jahre eine Sicherheitsfirma in Sankt Petersburg betrieb und der mit Putin zusammenarbeitete, führt aus: „Der KGB teilte Sobtschak mit: Hier ist unser Mann. Er kümmert sich um Dich.“ 1992 rückte Putin zu Sobtschaks Stellvertreter auf. Das nächste Kapitel wirft erneut ein dunkles Licht auf den heutigen russischen Präsidenten: Um den zwischen Unterweltbanden umkämpften Hafen Petersburgs unter seine Kontrolle zu bringen, soll der Beauftragte für Außenbeziehungen der Stadt Petersburg mit der gefährlichen Tambow-Mafia zusammengearbeitet haben. Doch es genügte ihm offenbar nicht, die öffentliche Ordnung sicherzustellen. Er soll zusammen mit der organisierten Kriminalität brisante Geschäfte eingefädelt haben. Als Marina Salye, eine Politikerin, ein Öl-für-Lebensmittel-Programm starten wollte, um die Nahrungsmittelknappheit der Stadt zu überwinden, erfuhr sie, dass Wladimir Putin bereits staatliche Lizenzen für die Ausfuhr von Rohstoffen vergeben habe. Über die Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft soll er Genehmigungen im Wert von mindestens Hunderten Millionen Dollar an ein Geflecht von Tarnfirmen vergeben haben. Zum Teil soll er Firmen Vermittlungsprovisionen von 50 Prozent zugestanden haben. Nicht nur Salye, auch Zollbeamte und Vertreter des russischen Außenhandelsministeriums beschwerten sich über Putins dubiose Geschäfte. Salye leitete eine Untersuchung ein, doch Putin legte nur zwei Seiten an Dokumenten vor. Alle anderen Verträge fielen unter das Geschäftsgeheimnis. 

Schon diese Details aus seiner Vergangenheit lassen befürchten, dass Wladimir Putin nicht der vertrauenswürdige Staatsmann ist, den viele in ihm sehen wollten: jemand, der angeblich berechtigte Interessen seines Landes vertritt. Vielmehr tritt uns jemand entgegen, dem es darum ging, sich und sein Netzwerk zu bereichern, gefährliche Mitwisser zum Schweigen zu bringen, und darüber hinaus einen hinterhältigen Krieg gegen den Westen führen.

Viel haben mutige Ermittler und Journalisten in Russland und im Ausland darüber zusammengetragen, welche Leichen Putins weg nach oben pflastern. Catherine Belton erinnert an die Toten. Leute, die zu viel über Putins Petersburger Vergangenheit wussten, kamen auf mysteriöse Weise ums Leben. Gehörte zu diesen auch Putins Mentor Anatali Sobtschak? Kurz bevor Putin zum Präsidenten gewählt wurde, starb Sobtschak in einem Hotel in einem Badeort bei Kaliningrad an einem Herzinfarkt. Seine Witwe machte in einem Interview mit der Zeitung Nowaja Gazeta, die ominöse Andeutung, „die Wahrheit über den Tod ihres Mannes liege „in einem Safe im Ausland“. In seinen Tod seien Menschen verwickelt, die an der Macht sind.

Indizien deuten darauf hin, dass Putin Teil eines Systems war. Das bestand darin, schwarze Kassen im Ausland anzulegen. So sollen Milliarden Dollar an Vermögenswerten der Kommunistischen Partei auf ausländische Tarnfirmen transferiert worden sein. Beamte, die zuviel wussten, wie der Leiter der Liegenschaftsverwaltung, Nikolai Kutschina oder dessen Vorgänger, fielen vom Balkon oder aus ihrem Fenster. 

Die ersten Oligarchen
waren Geschöpfe des KGB

Eines gelang den KGB-Seilschaften in den 1990er Jahren nicht: die Kontrolle über die Rohstoffe und damit über die größten und strategisch bedeutendsten Geldquellen Russlands zu erlangen. Hier hatten junge Geschäftsleute wie Michail Chodorkowski die Oberhand behalten. Sie waren, wie Belton interessant berichtet, unter Aufsicht des KGB zu Reichtum gekommen, als dieser in der Perestroika einer Auswahl von Uni-Absolventen erlaubte, unter der Hand mit westlichen Technologien wie Computern zu handeln. Die jungen Männer waren meist Juden, denen aufgrund ihrer Identität der Weg zu hohen Staatspositionen verschlossen war. Der große Moment dieser jüdischen Jungunternehmer war gekommen, als der russische Staat Mitte der neunziger Jahre dringend Geld benötigte. Darlehensgebern garantierte der Staat bei Zahlungsverzug Anteile an Öl-, Nickel- und Aluminiumvorkommen. Es kam, wie es angesichts klammer Staatskassen kommen musste: immer mehr Anteile an Öl-, Aluminium- und Stahlproduzenten gingen an die reichen Geldgeber, die über Nacht zu Multimilliardären und Oligarchen wurden. 

Als Putin und seine Sicherheitsleute (Silowiki), KGBler und FSBler, an die Macht kamen, hatten sie ein Ziel: diese Reichtümer an sich zu reißen. Aber wie kam Wladimir Putin an die Macht? Der Staatsanwalt Juri Skuratow ermittelte gegen den Präsidenten Boris Jelzin und seine Regierung wegen Verdachts auf Bestechlichkeit. Es ging um die Vergabe des Auftrages für die Renovierung des Kremls an das Schweizer Bauunternehmen Mabetex und um die Veruntreuung von IWF-Krediten in Höhe von mindestens zehn Milliarden Dollar. Mabetex richtete dem Präsidenten, seinen beiden Töchtern und einem seiner Schwiegersöhne Kreditkarten für Auslandskonten ein, die von Mabetex gefüllt wurden. 

Die Präsidialverwaltung und mancher Oligarch machte sich Sorgen, dass Jelzin zu Fall, gar hinter Gitter kommen und womöglich der den Kommunisten nahestehende Ministerpräsident Sergej Primakov sein Nachfolger werde. Die Geheimdienste fanden einen Weg, den Ermittler zum Schweigen zu bringen. Er wurde in eine Sex-Falle gelockt, ein Video, das seine Eskapade zeigte, bewog ihn zum Rücktritt. Ein unverbrauchtes Gesicht musste her. Wladimir Putin garantierte Jelzin Straffreiheit, und er überzeugte mit seinen Verprechungen, die Liberalisierung des Landes fortzusetzen, auch Medien und Oligarchen. Sie alle sollten sich in Putin täuschen. 

Bomben brachten Putin an die Macht

Ein halbes Jahr vor der Wahl im Jahr 2000 bekam die Welt einen Vorgeschmack auf Putins Methoden. Im September 1999 starben bei Bombenanschlägen auf zwei Moskauer Wohnblocks mehr als 200 Menschen in ihren Betten. Putin, damals Ministerpräsident, behauptete, tschetschenische Terroristen hätten die Anschläge verübt. Doch Belton erinnert daran, dass Ermittler auf Verbindungen der Täter zum Geheimdienst FSB stießen. Einen weiteren Anschlagsversuch, den Bewohner eines Wohnkomplexes rechtzeitig entdeckten, bezeichnete FSB-Chef Nikolai Patruschew nachträglich als „Übung“ und behauptete, in den Säcken sei nur Zucker gewesen – eine Aussage, die nachweislich falsch war, da lokale FSB-Kräfte den Sprengstoff bereits als Hexagon identifiziert hatten. 

Putin nutzte die Anschläge, um einen neuen Krieg gegen Tschetschenien zu entfesseln, sich vor Kameras als aggressiven, zupackenden Macher zu präsentieren. Das imponierte vielen Russen. Im Frühjahr 2000 wählten ihn die meisten Russen aus Überzeugung zum neuen Präsidenten. 

Der Frischgewählte versprach, dass Russland ein Land sein wolle, dass die Rechte von Investoren schütze. Doch hinter den Kulissen arbeiteten er und die Seinen an der gewaltsamen Entmachtung der Oligarchen der Jelzin-Ära. Putin und die Geheimdienstler wollten die Bodenschätze unter ihre Kontrolle  bringen. Fingierte Anklagen oder Verhaftungen dienten dazu, Geschäftsleuten ihre Firmen wegzunehmen. Tausende Firmeninhaber werden auf diese Art in Russland jedes Jahr erpresst, ihr Unternehmen abzugeben. Der Sturz von Putins einstigem Unterstützer Boris Beresowski, dessen Medien den neuen Präsidenten aufgrund seiner zunehmenden illiberalen Politik hart angingen und der Prozess gegen Chodorkowski, der mit der Zerschlagung seines Yukos-Konzerns endete, wurden zum Warnsignal für alle Investoren. Übrig blieben nur jene Superreichen, die Putin ihrer Loyalität versicherten, darunter Leute wie Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska. Die neuen Herrscher im Kreml waren zutiefst korrupt und sie gingen deutlich brutaler vor als ihre Vorgänger, wenn es darum ging, sich zu bereichern und Gegner aus dem Weg zu räumen. 

Catherine Belton. Foto: Harper Collins

Putin brachte seine eigenen Vertrauensleute an die Schaltstellen der Macht und des Geldes. Einige wie Juri Kowaltschuk, der Chef der Rossija-Bank, und der ehemalige Geheimdienstler Wladimir Jakunin gehörten wie Putin der Petersburger Datschenkooperative Osero an. Zu Putins langjährigen Vertrauten zählten auch der in Genf lebende Mineralölhändler Gennadi Timtschenko, der schon in Petersburg mit Putin zusammengearbeitet hatte, der Bauunternehmer und Judo-Partner Putins, Arkadi Rotenberg, und der Ex-KGB-Mann Igor Setschin, der auch der „dunkle Lord“ oder Darth Vader genannt wird. Der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung wurde Chef des Mineralölkonzerns Rosneft, der sich einen Teil von Yukos einverleibte. Ein Unternehmer berichtet in Beltons Buch, dass Setschin ihm auf einem Zettel einen Betrag aufschrieb, den er mitbringen solle, wenn er Putins Unterschrift unter eine Unternehmensgründung haben wolle. Auch Matthias Warnig, der Stasi-Hauptmann und Weggefährte aus Putins Dresdner Zeit, wurde mit einem Posten belohnt. Ihn ernannte Putin zum Geschäftsführer der Nord Stream 2 AG. 

Diese Männer verkörpern den Staatskapitalismus der Ära Putin. „Es gibt kaum noch echte Unternehmer“, klagt ein Insider in Beltons Buch. Oberster Schutzpatron dieser Kleptokratie sei Wladimir Putin. „Das erste Gespräch, das Putin mit einem neuen Staatsangestellten führt, verläuft laut Sergej Pugatschew, dem einstigen Bankiers des Kreml, so: „Hier ist dein Unternehmen. Teile es nur mit mir. Wenn dich jemand angreift, verteidige ich dich, und wenn du deine Position nicht als Geschäftsmodell nutzt, bist Du ein Dummkopf.“ Wie sehr Putin persönlich in die Wirtschaft hineinregiert, veranschaulicht ein westlicher Banker in Moskau, der sich wunderte, dass Putin sich in ein wenig brisantes Geschäft in Höhe von 20 Millionen Euro einmischte. 

Wie reich ist der russische Präsident?

Wie reich ist Putin selbst? „Es existieren keinerlei Dokumente oder Papiere, die beweisen, dass Putin irgendetwas besitzt“, verriet Sergej Kolesnikow, der selbst daran beteiligt war, schwarze Kassen für den Kreml anzulegen. „Putin ist ein Mensch, der speziell dafür ausgebildet wurde, keine Spuren zu hinterlassen“, so der Unternehmer. Der Gründer des Petromed-Konzern wollte nicht mehr mitspielen, als er die angehäuften Gelder nicht in öffentliche Infrastrukturprojekte, sondern in den Bau von Putins Palast am Schwarzen Meer stecken sollte. Er floh in die Vereinigten Staaten.

Michail Chodorkowski drückt es so aus: Putin sei nicht der reichste Mann wie das ein Bill Gates sei oder ein Elon Musk, die Vermögen besitzen, das auf ihren eigenen Namen eingetragen ist. Aber gleichzeitig habe Putin über die Oligarchen und Strohmänner Zugriff auf enorme Summen. Die Panama-Papers brachten ans Licht, dass der Cellist Sergej Roldugin ein solcher Strohmann Putins ist. Über Konten, die mit ihm verbunden sind, flossen Milliarden Euro auf Offshore-Konten. Leute wie Roldugin und die Superreichen seien Treuhänder seines Vermögens. Ein Zeuge in Beltons Buch sagt, wenn der Präsident einen Tycoon anrufe und eine Überweisung fordere, zu welchem Zweck auch immer, habe der sie auszuführen. Außerdem gebe es – ähnliche wie bei der russischen Mafia – sogenannte Gemeinschaftskassen mit Devisen in Milliardenhöhe. Was wem davon gehört, werde nur informell festgehalten, bei Besprechungen verwende Putins innerer Kreis Codenamen. So trage Putin den Spitznamen Michail Iwanowitsch, nach einem Polizeichef in einer Komödie aus der Sowjetzeit. Beltons Buch bestätigt, dass es ein symbiotisches Verhältnis zwischen Oligarchen und dem Kreml gibt. Wer die Vermögen der kremlnahen Superreichen einfriert, der schränkt damit auch Wladimir Putins Handlungsspielraum ein.

Schmutziges russisches Geld lagert heute auf Banken in Wien, Lugano, Genf, Zürich, auf den Cayman Islandes und auf Jersey, es wanderte in Londoner Immobilien und wurde von westlichen Banken in sichere Häfen geschleust. Belton nennt die Namen beteiligter Personen, Geldinstitute und Firmen und teilweise sogar die ihrer Gesprächspartner. 

Warum kaufte Abramowitsch
den FC Chelsea?

Mit viel Geld versuchte Russland, sich Soft Power im Westen zu erkaufen: durch die Ausrichtung von Olympischen Spielen und Fußball-WM, durch Gazproms Sponsoring im Fußball, den Kauf des FC Chelsea, den Putin laut Belton als Möglichkeit begrüßt habe, das Herz des britischen Volkes zu erreichen. 

Enorme Summen setzt der russische Präsident dafür ein, den Westen zu unterwandern und zu spalten. Belton sagt, dass Putin und seine Silowiki seit jeher einen geheimen und jetzt auch offenen Krieg gegen den Westen führen. Sergej Tretjakow, einen früheren Oberst des Russischen Auslandsgeheimdienstes SWR in New York, zitiert sie mit den Worten: „Ich möchte die Amerikaner warnen. Als Volk sind Sie überaus naiv, wenn es um Russland und seine Absichten geht. Sie glauben, weil die Sowjetunion nicht mehr besteht, sei Russland jetzt ihr Freund. Das stimmt nicht, und ich kann Ihnen zeigen, wie der (Auslandsgeheimdienst) SWR die USA auch heute noch zu zerstören versucht, und zwar stärker als der KGB während des Kalten Krieges.“ Europa spaltet der Kreml, indem er die Kontakte zu Putin-Verstehern pflegt, sei es in Frankreich (Marine Le Pen), in Deutschland (AFD, Linke, Teile der SPD), in Griechenland (Syriza-Partei), in Italien (Salvini, Berlusconi). Auch den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder belohnte Putin mit hochdotieren Posten. Belton schildert, wie russisches Geld in die Brexit-Kampagne floss, wie Putin englischen Lords hochbezahlte Posten in Aufsichtsräten russischer Unternehmen vermittelte und sogar einen europäischen Staatsmann an einem Ölgeschäft beteiligte. 

Ausführlich rollt Belton auf, wie es russische Investoren mit Verbindungen zur Unterwelt waren, die über Jahre hinweg Donald Trump, speziell seine Casino-Investments in Atlantic City, vor der sicheren Pleite retteten. Trump steht tief in der Schuld dieser russischen Unterweltler. Als Trump Präsident wurde, lag das Angebot für den Bau eines Trump Towers in Moskau auf dem Tisch. 

Ein hybrider Krieg
gegen die Ukraine
begann schon 2004

Eines der Schlachtfelder, auf dem Putin den Westen besiegen will, ist die Ukraine. Deren Unabhängigkeit bekämpft der Kreml-Chef, seit er an die Macht kam. „Die Schlacht beginnt“ heißt das Kapitel, in dem Belton Putins Angriffe gegen Nachbarländer darstellt. Von Anfang an ging es dem russischen Präsidenten darum, eine Westbindung der Ukraine zu verhindern. Die Autorin erinnert daran, dass Putins hybrider Krieg gegen die Ukraine schon 2004 begann. Damals versuchte der Kreml über Wahlfälschungen in Kiew seinen Wunschkandidaten Viktor Janukowitsch an die Macht zu bringen. Der westlich orientierte Präsidentschaftskandidat der Ukraine, Viktor Juschtschenko, wurde mit Dioxin vergiftet. Das Attentat löste die Orange Revolution aus. Die ukrainische Bevölkerung wollte keine Rückkehr in russische Arme und wählte Juschtschenko. Den amerikanischen Spin Doctor Janukowitschs, Paul Manafort, sah man übrigens viele Jahre später als Berater Donald Trumps wieder.

Putins Angriff auf das Nachbarland ging weiter, als sich kurz nach der Orangen Revolution 2005 die politische Bewegung Republik Donezk gründete, die enge Kontakte nach Moskau unterhielt. 2006 und 2008 kappte Putin im Streit um Gaspreise kurzzeitig die Energielieferungen an die Ukraine. 2014 freuten sich die Ukrainer auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, als der Kreml erneut Druck ausübte und Janukowitsch, inzwischen Präsident des Landes, seine Unterschrift zurückzog. Darauf hin brachen die Proteste auf dem Maidan aus, Janukowitsch floh nach Russland. Die Annexion der Krim, der Krieg im Donbass waren also nur die offene Fortsetzung der Angriffe, die seit zehn Jahren in Gang waren.

Nationalistische und imperialistische Denker wie Alexander Dugin lieferten ihm mit ihrer Idee einer panrussischen Welt, die vereint werden müsse, die geistige Munition. Die russisch-orthodoxe Kirche steuert den messianischen Überbau bei, wobei die angebliche Religiosität der Kreml-Herren politisch nützlich Folklore ist, wenn man bedenkt, dass viele dieser Gläubigen vorher eingefleischte Atheisten waren. Anatoli Sobtschaks Witwe Lyudmila Narusova nennt sie die „orthodoxen Taliban“. 

Belton findet aber auch ungewöhnliche Putin-Fans im Westen: adlige Exilrussen, deren Vorfahren von den Bolschewisten nach Westeuropa vertrieben worden waren. Einige von ihnen unterstützen Putins imperiale und antiwestliche Ideologie, sie gehören zu Putins Netz. Als Putins wichtigster Handlanger in der Ostukraine gilt der Finanzinvestor Konstantin Malofejev. Belton bezeichnet ihn als Financier des Krieges im Donbass – was dieser bestreitet. Sie verweist darauf, dass Igor Strelkow, einer der russischen Anführer der Separatisten im Donbass, Malofejews Sicherheitschef gewesen sei. Auch soll Strelkow Malofejew militärische Erfolge telefonisch gemeldet haben.

Man legt das Buch nach 600 Seiten erschrocken zu Seite. Erschrocken darüber, dass jede  verständnisvolle Deutung seiner Absichten die wahre Natur Wladimir Putins und seines inneren Zirkels verkannte. Dass europäische Staats- und Regierungschef von Emmanuel Macron bis Olaf Scholz diesen Mann noch kurz vor dem Ukraine-Krieg hofierten, obwohl bekannt ist, dass der KGB- und FSB-Mann solche Bemühungen als Ausdruck von Schwäche ansieht und ausnutzt. 

Putins Netz ist ein packend erzähltes Meisterwerk investigativer Recherche. Es ist allen Politikern, Wirtschaftsleuten und Bürgern als Lektüre zu empfehlen, die ein von Naivität oder wirtschaftlichen Interessen geleitetes Bild Wladimir Putins und seines Umkreises hatten und sich nun von dessen brutalem Krieg gegen die Ukraine überrascht zeigen. 

Putin-Intimkenner wie Sergej Pugatschow bedauern heute, dass sie dabei mithalfen, Wladimir Putin an die Macht zu bringen. Pugatschow sagt, er habe die entsetzte Reaktion von Anatoli Sobtschak ignoriert, der, als er hörte, dass Putin als Ministerpräsident eingesetzt werden solle, antwortete: „Machen Sie mir keine Angst.“ Pugatschow hielt Sobtschak für eifersüchtig. „Aber natürlich wusste er alles. Heute bin ich entsetzt über mich selbst.“ 

Für Pugatschow ist es die Tragödie Russlands im 20. Jahrhundert, dass die demokratische Revolution nicht vollendet wurde. Von Anfang an hätten die Sicherheitsmänner den Samen für eine Revanche gesät. Aber, so schließt Belton, sie waren anscheinend auch von Anfang an dazu verurteilt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Das ist der einzige Hoffnungsschimmer. Nur steht zu befürchten, dass noch viele Menschen sterben werden, bevor die Täter von ihren Fehler eingeholt werden.

© Holger Christmann

Lektüre

Catherine Belton
Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste, Harper Collins 2022,
26 Euro