Editorial
Wollen die Palästinenser keine Zweistaatenlösung?
Die Umfrage, die unbeachtet blieb: Eine Mehrheit der Palästinenser lehnt eine Zweistaatenlösung für den Nahen Osten ab. Was wollen die Palästinenser dann? Und: Warum Technologie Kriege entscheidet – auch wenn ein einstiger Generalinspekteur der Bundeswehr das Gegenteil behauptet.
VON HOLGER CHRISTMANN
15. März 2024
Ein seltenes Bild der Verständigung: Palästinensische und israelische Teenager 2009 bei einem Friedenscamp im österreichischen Rechnitz. Rechts der Historiker Michael Ingber. Vor allem junge Palästinenser sprechen sich in einer Umfrage heute gegen eine Zweistaatenlösung auf. Foto: Dieter Nagl/AFP/Getty
Während Israel im Gazastreifen militärisch gegen die islamistische Terrororganisation Hamas vorgeht, auch unter Inkaufnahme vieler ziviler Opfer, bekundeten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Großbritanniens Außenminister David Cameron, sie könnten sich die einseitige Anerkennung eines palästinensischen Staates vorstellen. Damit soll Israel gezwungen werden, auf dem Verhandlungsweg einer Zweistaatenlösung zuzustimmen. Doch was halten Israelis und Palästinenser von dieser Idee, die aus westlicher Sicht schon immer als die fairste Lösung für den Konflikt im Nahen Osten galt? Zwei Gallup-Umfragen lassen aufhorchen. Glaubt man dem amerikanischen Meinungsforschungsinstitut sprechen sich sowohl Israelis als auch Palästinenser mehrheitlich gegen eine Zweistaatenlösung aus.
Die eine Umfrage erhoben die Meinungsforscher zwischen dem 17. Oktober und 3. Dezember 2023, also unmittelbar nach dem großen Terrorangriff der Hamas auf Israel. Sie ergab, dass nur noch einer von vier Israelis die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates in ihrer Nachbarschaft befürwortet. 2012 hatten sich noch 60 Prozent der Israelis für einen eigenen palästinensischen Staat ausgesprochen.
Besonders die Jungen lehnen die Zweistaatenlösung ab
Noch mehr überrascht eine zweite Umfrage, die zwischen Juli und September 2023 – also kurz vor den Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober – erhoben wurde. Hier sprachen sich laut Gallup 65 Prozent der Palästinenser gegen eine Zweistaatenlösung aus. Besonders groß fiel die Ablehnung unter den 15- bis 25-jährigen Befragten aus. In dieser Altersgruppe wünscht sich nur einer von sechs Befragten eine Aufteilung der Region in zwei Staaten. Die über 46-Jährigen standen einem Palästina aus zwei Staaten wohlwollender gegenüber. Die Meinungsforscher von Gallup schließen daraus: „In Anbetracht der jungen Bevölkerung in den Palästinensischen Gebieten, wo 69 Prozent der Bevölkerung unter 29 Jahre alt sind, ist die Skepsis der jungen Menschen ein besorgniserregendes Signal für die Zukunft.“
Sinkende Zustimmung zu einer Zweistaatenlösung unter den Palästinensern. Quelle: Gallup
Die Umfrage beantwortet nicht, warum die befragten Palästinenser eine Zweistaatenlösung ablehnen. Liegt es am fehlenden Vertrauen in die eigene Führung? An dem mangelnden Glauben daran, dass sich in einem staatlichen Gebilde mit festen Grenzen etwas ändern würde am Los der dort lebenden Bevölkerung? Zugleich ist es schwer vorstellbar, dass die Befragten bewusst eine Fortsetzung der israelischen Besatzung einem eigenen Staat vorzögen. Bleiben zwei Alternativen: Die Eingliederung in einen anderen arabischen Staat, etwa Jordanien. Die unheimlichste Option: Die Mehrheit der Palästinenser träumt von der Auslöschung des Staates Israel. Nichts anders meint die Formel „Palestine will be free – from the River to the Sea“.
Davon träumt die Hamas. In ihrer Charta fordert die Terrororganisation, dass über ganz Palästina die Fahne des Propheten Mohammed weht. Nur einige wenige Juden wären in dem Scharia-Staat als verschwindende Minderheit geduldet. So extrem diese Forderung klingt, entspricht sie historisch dem Mainstream der palästinensischen Gesellschaft.
Auf in Israel gibt es keine Mehrheit für eine Zweistaatenlösung. Quelle: Gallup
Ein Blick in die Geschichte verheißt nichts Gutes. Die Idee der Zweistaatenlösung stand erstmals 1937 im Bericht der britischen Peel-Kommission. Die Delegation, benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem ehemaligen Indien-Minister William Peel, bereiste Palästina während des blutigen Arabischen Aufstands, um die Wurzeln der hemmungslosen Gewalt gegen Juden aufzuarbeiten. Knapp eineinhalb Jahrzehnte nach dem Beginn des britischen Völkerbundmandats über Palästina, das wie ein Turbo auf die jüdische Einwanderung in die Region gewirkt hatte, kam die Kommission schon damals zu dem Ergebnis, dass eine friedliche Lösung des Konflikts nicht mehr zu erreichen sei. Nur eine Trennung der verfeindeten Völker verspreche die Aussicht auf Frieden.
Die Führung der Araber Palästinas lehnte diesen Plan jedoch von Anfang an strikt ab. Der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, hatte in einer Fatwa ganz Palästina zum Besitz der Muslime erklärt – und dazu aufgefordert, die eingewanderten Juden zu vertreiben. Ganz Palästina zurückzuerobern, blieb oberstes Ziel der palästinensischen Führung, als die Vereinten Nationen 1947 einen Teilungsplan für Palästina beschlossen. Anstatt ihn anzunehmen, versuchten sie den werdenden jüdischen Staat mit Terroranschlägen zu verhindern. Als David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den jüdischen Staat offiziell ausrief, zogen die Araber vereint gegen Israel in den Krieg.
Einigungen nur zum Schein
Jassir Arafat, ein Ziehsohn Mohammed Amin al-Husseinis, setzte mit der PLO den Kampf gegen Israel fort. Dabei ging es der PLO nie um eine Zweistaatenlösung. Die kam wieder im Rahmen des Oslo-Friedensprozess (1993–1995) ins Spiel. Beide Parteien einigen sich zwar auf eine friedliche Koexistenz und gegenseitige Anerkennung sowie auf eine Zweistaatenlösung in ferner Zukunft. Gleichzeitig überzogen palästinensische Terrogruppen Israel mit Anschlägen. Arafat gab seine wahren Ziele preis, als er das Oslo-Abkommen mit der in einer Scharia beschriebenen zeitlich begrenzten Waffenruhe (Hudna) verglich. Diese Waffenpause, die sich über viele Jahre erstrecken kann, dient dazu, die eigenen militärischen Kräfte wieder aufzubauen, um den bewaffneten Kampf gegen den Feind zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen. Am Ende scheiterte eine Friedenslösung auch daran, dass Arafat und Mahmud Abbas, heute Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, bei den Verhandlungen in Camp David im Jahr 2000 das Rückkehrrecht für Millionen palästinensischer Flüchtlinge verlangten. Eine Maximalforderung, die Israel nicht annehmen konnte.
In den letzten Jahren weckten Iran und seine Milizen Hizbullah im Libanon und Hamas in Gaza bei vielen Palästinensern die Hoffnung, mächtige Verbündete im Kampf gegen Israel zu haben. Diese Allianz nährte auch die Illusion, dass der alte Traum der Araber Palästinas noch wahr werden könnte: der Traum, die Uhren auf die Zeit vor dem November 1917 zurückzustellen. Damals versprach der britische Außenminister Arthur James Balfour dem jüdischen Volk eine Heimstätte in Palästina. Die Balfour-Deklaration war als Einladung an jüdische Einwanderer zu verstehen und führte letzten Endes zur Gründung des Staates Israel.
Die Gallup-Umfrage lässt sich im schlimmsten Fall so lesen, dass die Hamas deutlich mehr Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung genießt als gemeinhin angenommen. Und einzusehen, dass eine Zweistaatenlösung nur dann realistisch ist, wenn sie von den beiden Bevölkerungen gewollt wird.
Was Harald Kujat von den Mongolen lernen könnte
Mehr historische Kenntnis wünscht man sich nicht nur in der Nahost-Debatte, sondern auch in der Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat sprach sich in einem Interview mit The Pioneer gegen eine Lieferung des Marschflugkörpers Taurus aus. Seine Begründung: „Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, durch Waffensysteme könne man einen Krieg gewinnen. Über Sieg und Niederlage entscheiden nicht Waffensysteme, sondern die Soldaten, die diese Waffensysteme bedienen.“
Kujat kennt wohl eine der entscheidenden Wendungen im Zweiten Weltkrieg nicht, die sowohl den Pazifikkrieg als auch den Krieg in Europa zugunsten der Vereinigten Staaten beziehungsweise der Alliierten entschieden. Lange war die amerikanische Pazifikflotte den leichten und agilen Jagdflugzeugen der Japaner vom Typ Mitsubishi A6M-Zero-Jäger hilflos ausgeliefert. Erst die Einführung eines neuen Flugzeugs, des Grumman F6F Hellcat, verschaffte den Vereinigten Staaten im Pazifikkrieg die Lufthoheit. Dieses Flugzeug war stärker motorisiert und schneller als der Zero-Jäger, es konnte höher aufsteigen und sich pfeilschnell von oben wie ein Raubvogel auf seine schwach gepanzerte Beute stürzen. Da die Kaiserliche Japanischen Heeresluftstreitkräfte nun kaum mehr dazu kamen, „Schiffe versenken“ mit amerikanischen Flugzeugträgern zu spielen, trug die Einführung dieser neuen Jagdflugzeuge zum Sieg der Vereinigten Staaten über Japan maßgeblich bei.
Ganz ähnlich die Lage in Europa: Für die Besatzungen der amerikanischen B-17-Bomber, die deutsche Industrieanlagen ins Visier nahmen, war zuerst jeder Einsatz ein Himmelfahrtskommando. Der deutschen Flugabwehr und den deutschen Kampfpiloten in ihren Jägern vom Typ Messerschmitt oder Focke-Wulf gelang es immer wieder, ganze Geschwader der amerikanischen Fliegenden Festungen vom Himmel zu holen. Die Verluste an Mensch und Maschine waren dramatisch. Glänzend dargestellt ist das in Steven Spielbergs TV-Serie Masters of the Air, die derzeit auf Apple TV zu sehen ist. Aufgrund panischer Ausweichmanöver der amerikanischen Bomber fielen deren Bomben oft nicht dorthin, wo sie sollten. Die Wende kam, als die Amerikaner den Bombern Geleitschutz durch Geschwader eines neues Jagdflugzeugs, der P 51 Mustang, gaben. Die Reichweite des Mustang war so groß, dass er die amerikanischen Bomber bis tief nach Deutschland hinein begleiten und deutsche Angreifer bekämpfen konnte. Bessere Technologie trug auch hier zum Kriegserfolg bei.
Kriege werden also, anders als es der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr behauptet, auch durch bessere Technik entschieden. Das wussten schon die Mongolen. Sie versahen ihre Pferdesättel mit Steigbügeln, weil feststehende Füße dem Bogenschützen das Zielen erleichtern. Auch dank dieses kleinen technologischen Vorsprungs eroberten die Mongolen ihr Weltreich.
©Holger Christmann/FEATURE