Biennale

Der Krieg in der Ukraine erreicht die Kunst

Künstler verarbeiten auf der 60. Kunstbiennale in der Lagunenstadt den Krieg in ihrem Land. Polen widmet seinen Pavillon dem Nachbarland. Eine Kulturmanagerin aus Kiew appellierte im Palazzo Contarini Polignac in Militäruniform an die kulturelle Elite der Welt, ihre Stimme zu erheben.

VON HOLGER CHRISTMANN
7. Mai 2024
Flüchtlinge aus der Ostukraine, die im westukrainischen Lviv Zuflucht gefunden haben,  imitieren die Klänge des Krieges. Das Video des Künstlerkollektivs Open Group aus Lviv ist im polnischen Pavillon der Kunstbiennale von Venedig zu sehen. Foto: Open Group

Kurz vor der russischen Invasion in der Ukraine verteilte das ukrainische Zentrum für strategische Kommunikation und Informationssicherheit des Ministeriums für Kultur und Informationspolitik an die Bevölkerung Broschüren mit dem Titel „Im Falle einer Gefahr oder eines Krieges“. Die Publikation gab Überlebenstipps für das Verhalten in einem Kriegsgebiet. Die Anweisungen unterschieden sich, je nachdem, ob der Angriff von automatischen Gewehren, Artilleriefeuer, Mehrfachraketenwerfern oder einem Luftangriff ausgeht. Die Fähigkeit, den Unterschied zu erkennen, kann Leben retten. Heute kennt jeder in der Ukraine den Klang des Krieges. Die Menschen in den Städten – von der Front ganz zu schweigen – sind gewohnt an das Surren, Pfeifen, Knattern, Zischen von Raketen und Drohnen über ihren Köpfen, das Heulen der Sirenen, den Knall einer Explosion, die Geräusche einer iranischen Shahed-Drohne oder eines heran fliegenden russischen Marschflugkörpers. Das im polnischen Exil lebende ukrainische Künstlerkollektiv Open Group bat Kriegsflüchtlinge aus dem Donbas, den Sound des Krieges mit ihrer Stimme vor den Mikrofonen einer Karaoke-Anlage zu imitieren. Die daraus entstandene Video-Installation Repeat After Me II ist im polnischen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig zu erleben. Die Besucher sind aufgefordert, die Geräusche zu wiederholen.

Polen gibt der Ukraine eine Bühne

Eigentlich hatte Polen in dem Pavillon ein anderes Werk zeigen wollen. Als in Warschau noch die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regierte, sollte der Maler Ignacy Czwartos dort die vermeintlich schwierige Rolle Polens zwischen Deutschland und Russland thematisieren. Nach dem Regierungswechsel im Dezember 2023 entschied sich der neue Kulturminister Bartlomiej Sienkiewicz für den ukrainischen Gastbeitrag. Die Entscheidung signalisiert, dass es für die Polen kein drängenderes Thema gibt als die Abwehr des russischen Angriffskriegs auf das Nachbarland, der schon über zwei Jahre dauert. 

In früheren Jahrhunderten bezogen Künstler immer wieder zu Kriegen Position bezogen. Im siebzehnten Jahrhundert schilderte der französische Radierer Jacques Callot in einem Zyklus die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges. Nach Callots Vorbild prangerte Francisco de Goya in seinen zwischen 1810 und 1918 entstandenen Aquantinta-Radierungen Desastres de la Guerra Gemetzel an, die Napoleons Truppen in Spanien verübten. Eugène Delacroix‘ Gemälde Das Massaker von Chios erinnerte 1824 an die zwei Jahre zuvor verübten Morde an 40.000 Griechen durch Soldaten des Osmanischen Reichs. Das Bild des Franzosen im Louvre wurde zur Ikone des griechischen Freiheitskampfs. Pablo Picasso erfand die Friedenstaube und klagte in Gemälden den Luftangriff der deutschen Legion Condor und des italienischen Corpo Truppe Volontarie auf die baskische Stadt Guernica an. Jetzt, zwei Jahre nach Kriegsbeginn, ist auch der Krieg in der Ukraine in der Kunstwelt angekommen. 

Dafür stehen vor allem die ukrainischen Beiträge auf und rund um die Kunst-Biennale von Venedig. Für deren Präsenz sorgte wieder der profilierteste Kunstmäzen der Ukraine: der Hersteller von Pipeline-Rohren, Philantrophen und Kunstpatron Victor Pinchuk. Der Milliardär finanzierte schon 2005 den ukrainischen Biennale-Pavillon, er verleiht in Venedig regelmäßig den Future Generation Art Prize, und seine beiden Förderinstitute, das Pinchuk ArtCentre und die Victor Pinchuk Foundation, zeigen seit vielen Jahren während der Biennale internationale und ukrainische Gegenwartskunst. 

Im Palazzo Contarini Polignac stellte Zhanna Kadyrova eine Orgel auf, in die sie Überreste abgefeuerter russischer Raketen montiert. Die Installation trägt den Titel Russian Contemporary Baroque. Foto: Ela Bialkowska/Okno Studio

Für die Schau From Ukraine: Dare to Dream nutzt Pinchuk einmal mehr den Palazzo Contarini-Polignac, einen Palast am Canal Grande mit großer mäzenatischer Geschichte: Er gehörte einst Winnaretta Singer, der Erbin des Singer-Nähmaschinen-Imperiums, die hier namhafte Musiker förderte und Künstler empfing. Erik Satie, Poulenc und Ravel widmeten ihr Werke, Picasso und Coco Chanel waren im Palazzo Contarini zu Gast. Jetzt hat die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrova, so, als wisse sie um die musikhistorische Bedeutung des Ausstellungsorts, inmitten der Schau eine Orgel aufgestellt. Auf die Orgelpfeifen hat sie Überreste abgefeuerter russischer Raketen montiert. Die Installation mit dem Titel Russian Contemporary Baroque spielt darauf an, dass Russland seine berühmten Komponisten und Ballett-Ensembles als Soft Power einsetzte, um Sympathien im Westen zu gewinnen. Und sie fragt, welchen Wert sogenannte Hochkultur hat, wenn das Volk, das sich mit ihr schmückt, verroht und täglich entsetzliche Kriegsverbrechen begeht?

Verschleppte Kinder und ein vergessenes Massaker

Auf eines dieser Verbrechen weist eine sechsteilige Video-Installation des Künstler- und Filmemacher-Duos Yarema Malashchuk und Roman Khimei hin. Die Videos tragen den Titel You are not supposed to see this. Jeder Film beobachtet ein schlafendes oder aufwachendes Kind. Der friedliche Eindruck täuscht, denn zu sehen sind Kinder, die Russland aus der Ukraine entführte und die in ihr Heimatland zurückgekehrten. Mindestens zwanzigtausend Kinder sind laut Schätzungen der Plattform Children of War nach Russland verschleppt worden, dreihundertachtundachtzig kehrten bislang zurück.

Ein weiteres Verbrechen ist Thema des fotografischen Polyptichons Izyum Forest von Yana Kononova. Die Künstlerin war dabei, als ukrainische Einsatzkräfte nach dem Abzug der russischen Truppen im September 2022 im Wald von Izyum in der Region von Charkiw ein Massengrab aushoben. Sie förderten weit über vierhundert Leichen zutage. Die wenigsten von ihnen – zweiundzwanzig – waren Soldaten, die weiteren Überreste stammten von ermordeten Zivilisten. Darunter waren zweihundertfünfzehn Frauen, einhundertneunundvierzig Männer und sieben Kinder. Während das Massaker in der Ortschaft Butscha im März 2022 zum Synonym für russische Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung wurde, gerieten die Gräueltaten von Izyum im Westen beinah in Vergessenheit. Kononova gräbt sie buchstäblich wieder aus. Yana Kononova macht nicht die Leichenfunde zum Thema, sondern die Ansammlung von Rettungskräften und Untersuchungsteams. Sie berichtet, wie das Werk entstand: „Als ich im Wald von Izyum ankam, fiel mir der Anblick einer großen Anzahl von Rettungskräften auf, die in blaue Umhänge gekleidet und mit Schaufeln bewaffnet zwischen den Kiefern saßen und an eine heilige Versammlung erinnerten. Daraufhin beschloss ich, mich nicht darauf zu konzentrieren, den Exhumierungsprozess selbst zu dokumentieren, sondern dieses symbolische Bild der menschlichen Zusammenkunft im Wald visuell zu erforschen“, sagt Yana Kononova. Aus fünf separat aufgenommenen Fotografien schuf sie ein monumentales Panorama, in dem die Menschen durch digitale Bearbeitung mit dem Kiefernwald zu verschmelzen scheinen. 

Von Russland verschleppte ukrainische Kinder sind die Hauptfiguren in der Video-Installation You are not Supposed to See This von Roman Khimei and Yarema Malashchuk. Foto: Ela Bialkowska/Okno Studio

Ein anderer Künstler, Oleksiy Sai, hat seine digitalen Werke, die als Drucke auf Metalloberflächen ausgestellt werden, seit dem Beginn der russischen Militäraktionen in der Ukraine 2014 mit Bohrern traktiert, um seine negativen Emotionen abzubauen. Die verstümmelten Oberflächen seiner Serie Bombed ähneln ukrainischen Landschaften, die mit Kratern vom Beschuss übersät sind. 

Plötzlich war die blaue-gelbe Flagge abgehängt

Nikolay Karabinovych zeigt in einem neunzehnminütigen Video, wie aus einer europäischen Stadt allmählich die Farben Blau und Gelb verschwinden, die Farben der Ukraine. Auf die Idee kam er, nachdem am Berliner Brandenburger Tor die nach dem Kriegsbeginn 2022 gehisste ukrainische Flagge verschwunden war. Der Künstler fragte sich, warum das Symbol der Solidarität mit dem überfallenen Land gerade zu diesem Zeitpunkt verschwand und wer die Entfernung der Flagge angeordnet hatte. Karabinovych Video ist Ausdruck der Resignation über die schwindende Unterstützung des Westens für sein Land.

Yana Kononova dokumentierte die Exhumierungsarbeiten der Massengräber im Wald von Izyum, wo die russischen Invasoren 400 Zivilisten ermordeten. Foto: Ela Bialkowska/Okno Studio

Das Träumen, das der Ausstellungstitel verspricht, hat nur Dana Kavelina noch nicht verlernt. Ihr 52minütiges Video It can’t be that nothing can be returned spielt in einer digital modellierten fiktiven Zukunft nach dem Krieg, in dem Toten wiederauferstehen. Sie erhalten die Möglichkeit, sich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen, schmerzhafte Erinnerungen zu entfernen und in einem Denkmal zu archivieren. Die Täter wiederum werden gezwungen, immersiv in die Erinnerung ihrer Opfer einzutauchen. Die Utopie dieses Werks lautet, dass Täter und Opfer durch das gemeinsame Durchleben des Kriegstraumas neue empathische Beziehungen entwickeln. Das ist eine schöne Idee, die jedoch auf absehbare Zeit an der fehlenden Einsicht des Gegners in die eigenen Verbrechen scheitern dürfte.

„Damit die Ukrainer als Volk nicht aussterben“

Victor Pinchuk legte in seiner Eröffnungsrede offen, wie sehr die Biennale mit ihrem Motto Foreigners Everywhere vom westlichen Antirassismus- und Antikolonialismus-Diskurs geprägt ist, während der letzte koloniale Aggressor, derweil eine Demokratie  in Europa in Schutt und Asche bombt und in sein totalitär regiertes Reich eingliedert: „Derzeit gibt es sechsundzwanzig Kriege und Konflikte auf der ganzen Welt, in Afrika, Asien und in Europa – in meinem geliebten Land, der Ukraine“, sagte der Kunstsammler.  Er schilderte seinen größten Albtraum: Dass die Ukrainer eines jener beinah ausgestorbenen Völker werden könnten oder eine bedrohte Minderheit, wie sie auf der diesjährigen Biennale gefeiert werden. Er habe „viele Kunstwerke über die koloniale Vergangenheit und schöne Ornamente von Zivilisationen gesehen, die von früheren Kolonialmächten zerstört wurden. Ich habe Vertreter von Völkern getroffen, die fast ausgestorben waren – ich möchte nicht, dass in zwanzig oder dreißig Jahren jemand eine Ausstellung über mein Land – die Ukraine – macht, das zerstört wurde und in dem Tausende, wenn nicht Millionen von Ukrainern getötet wurden“, rief der Oligarch.  

Kunstmäzen Victor Pinchuk warnt vor einer Zukunft, in der sich Künstler mit dem bedrohten Volk der Ukrainer befassen. Foto: Ela Bialkowska/Okno Studio

„Ich möchte nicht, dass wir uns an die schönen, freien Menschen erinnern müssen, die es in diesem Land vor zwanzig oder dreißig Jahren gab. Ich möchte nicht, dass große Künstler von großen ukrainischen Tragödien inspiriert werden.“

Björn Geldhof, künstlerischer Leiter des Pinchuk Art Centre und Kurator der Schau, sagte, die Ausstellung wage es, zu träumen, sei aber gleichzeitig in der brutalen Realität von Krieg und Leid in der Ukraine verankert. Daher sei sie auch ein Aufruf zum Handeln. „Nicht zu handeln und unbeweglich zu bleiben, wäre unmoralisch. Wir glauben, dass die Kultur nicht untätig bleiben darf, sondern sich mit der Ukraine gegen die Unterdrückung und für eine Welt, die träumen und besser sein kann, einsetzen sollte.“

Kulturmanagerin in Uniform: Hanna Vasyk

Dann trat Hanna Vasyk auf. Die promovierte Philosophin war Programmleiterin des Pinchuk Art Centre und Gründungsmanagerin des Kiewer Techno-Clubs K 41. Heute ist sie als Unteroffizierin und Sanitäterin an der Front im Einsatz und versucht täglich, verwundeten Soldaten das Leben zu retten. „Wenn die Ukraine nicht gewinnt, wird es uns nicht mehr geben – weder unsere Kunst noch unsere Kultur“, sagte Vasyk, die in ihrer Militäruniform gekommen war. „Wenn man der Armee beitritt und in den Kampf zieht, macht man einen großen Schritt in die totale und absolute Ungewissheit. Bevor man in den Kampf zieht, muss man seinen Tod, eine mögliche Verwundung oder Gefangenschaft akzeptieren. Aber gleichzeitig muss man davon träumen, den Kampf fortzusetzen.“ Sie berichtet aus ihrer Arbeit in der Evakuierung verwundeter Soldaten eines Luftlande-Sturmregiments. Sie habe fünfzig verwundete Soldaten evakuiert. Man müsse sie bei Bewusstsein halten, indem man sie zum Träumen bringe, weil sie dann aktiver um ihr Leben kämpften. Es helfe, sie an jemanden zu erinnern, den sie lieben, an ihre Familien, ihre Kinder, ihre Partner. Vasyk berichtete von einem Kampfgefährten, der an dem heftig umkämpften Frontabschnitt von Tschassiw Jar im Einsatz war. Gemeinsam hätten sie davon geträumt, das nächste Mal zusammen nach Venedig zu fahren. „Ich weiß nicht einmal, ob er mir heute Abend zurückschreibt. Aber ich höre nicht auf, zu träumen, das hält mein Herz lebendig“, rief Hanna Vasyk mit bebender Stimme – und war das Kämpfen und Sterben auf dem Schlachtfeld an diesem privilegierten, schönen Ort bedrückend nah.

Hannah Vasyk, einst Kulturmanagerin am Pinchuk Art Centre, ist jetzt als Unteroffizierin und Sanitäterin an der Kriegsfront tätig. Foto: Ela Bialkowska/Okno Studio

Am Ende ihrer Rede bat die Kulturmanagerin die in Venedig versammelte „kulturelle Elite“, ihre Stimme zu erheben „und uns Waffen zu besorgen“. Sie sprach damit aus, dass ein Krieg, in dem es ums Überleben oder Sterben geht, nicht allein mit guten Argumenten oder einprägsamer Kunst gewonnen wird, auch wenn gerade „From Ukraine: Dare to Dream“  das Potenzial hat, die Solidarität mit der Ukraine zu stärken. Die Glaubwürdigkeit der internationalen Kunstszene, die sich auf der Biennale vielerorts als moralisches Gewissen der westlichen Welt inszeniert, hängt auch davon ab, ob sie ihre Stimme für die Ukraine noch etwas lauter als bisher erhebt, am besten, bevor es zu spät ist.

© Holger Christmann/FEATURE

From Ukraine: Dare to Dream, Palazzo Contarini Polignac, Venedig
Bis 1. August 2024