Editorial

Der Sommer unseres
Missvergnügens

Der Autor bekam schon im Juni einen Vorgeschmack auf das aktuelle Chaos an Europas Flughäfen. Mitten im Getümmel kam Lufthansa-Chef Carsten Spohr des Weges. In einem feuerroten High-Speed-Zug kehrte die Freude am Bahnfahren zurück.

VON HOLGER CHRISTMANN
28. Juli 2022
Abheben ist besonders am Flughafen Florenz ein Kunststück. Das liegt im Moment nicht nur an der kurzen Startbahn, dem Wind und den viel zu nahen Bergen. Foto: Frank Reporter

Als ich am 10. und 11. Juni 2022 mein Gepäck für den Flug von Florenz nach Frankfurt am Main eincheckte, ahnte ich nicht, dass ich kurz darauf einen Vorgeschmack auf das größte Flughafenchaos in der Geschichte der Nachkriegszeit bekommen sollte. Alles begann mit einem sehr spezifischen Problem des Flughafens Florenz. Die Renaissance-Stadt ist eine der meistbesuchten Europas. Ihr Flughafen indes, der nach Amerigo Vespucci benannt ist (Leonardo da Vinci war schon vergeben), stellt Piloten und Passagiere auf die Probe. Die einen, weil die Landebahn so kurz ist, die anderen weil es an Komfort fehlt. Was die Passagiere angeht: Am besten, man versucht gar nicht erst, in dem Self-Service-Café im Durchgang einen Platz zu finden. Dagegen ist jedes Bahnhofscafé gemütlicher. Außerdem ist meist schon jeder Tisch besetzt. Es empfiehlt sich, im Augen-zu-und-durch-Modus direkt mit der Rolltreppe ins Erdgeschoss zu fahren, wo man eng gedrängt neben anderen Passagieren in seinem Plastikschalen-Sitz auf die Abholung mit dem Flughafen-Bus wartet. Was die Herausforderung für die Piloten betrifft: Die einzige Start- und Landebahn in Florenz ist nur 1,56 Kilometer lang  (in München und Frankfurt sind es vier Kilometer), und sie ist eingeklemmt zwischen einer Autobahn und einem 900 Meter hohen Berg. Viele größere Maschinen können gar nicht hier landen. Der Widerstand von Anwohner-Gemeinden verhindert seit Jahren, dass eine neue, längere Piste sinnvollerweise parallel zu Berg und Autobahn angelegt wird. Solange die nicht gebaut ist, müssen Piloten ihre Embraer 195 oder eine andere kleinere Maschine mit einer Vollbremsung zum Stehen bringen. Beim Start muss alles stimmen, damit die Turbinen genug Schub entwickeln. Am 10. Juni stimmte nicht alles. Seit Tagen wehte ein starker Wind. Als Folge davon, mussten die Piloten der Air Dolomiti, – so zumindest die Erklärung – das Gewicht der Maschine verringern, um trotz Böen und starken Gegenwinds vor dem Ende der Kurzbahn abheben zu können. Einem Dutzend bereits eingecheckter Passagiere wurde das Boarding verweigert, ihr Gepäck musste wieder ausgeladen werden. Zu diesen Passagieren gehörte ich. Was ich nicht ahnte, war, dass dies nur das Vorspiel einer Odyssee war. Heute kann ich sagen, dass ich einer der ersten Passagiere war, die Bekanntschaft mit dem Flughafen- und Gepäckchaos dieses Sommers machten.

Es bildete sich eine Schlange am Check-in-Schalter. Dort sollte ein Mitarbeiter erscheinen, der unsere Flüge umbucht. Dieser Mitarbeiter kam nicht. Nach einer Stunde bemerkte das offenbar der Mann, der für das Boarding im Untergeschoss zuständig gewesen war, nahm konzentriert und entschlossen am Schalter Platz und begann, einen nach dem anderen aufzurufen. Nach zwei Stunden war mein Flug auf den nächsten Tag und auf den Abflugort Bologna umgebucht. Hieß es erst, für ein Hotel in Bologna sei gesorgt (was mich freute, denn ich liebe Bologna und freute mich auf einen schönen Abend dort), hieß es nun, das Hotel befinde sich „auf dem Weg zum Flughafen“ in Montecatini Terme. Der hübsche, aber verschlafene Kurort ist schön gelegen, aber sicher nicht in der Nähe oder auf dem Weg nach Bologna. Einer jungen Frau aus Rheinland-Pfalz riss der Geduldsfaden, sie bekam einen Wutanfall, wollte sie doch mit ihrem Mann am nächsten Tag ein Weinfest in ihrer Heimat besuchen. Deshalb hatte das Pärchen den ersten Flug früh am Morgen gewählt. Nun erfuhren die beiden, dass der Bus sie um drei Uhr nachts am Hotel abholen würde, die Vorfreude auf den hellwachen Genuss des Pfälzer Weinfestes war dahin. Ich beschloss, mich um mein Hotel in Bologna selbst zu kümmern.

Doch zunächst brauchten alle ihr Gepäck, das von dem winzigen Lost-&-Found-Schalter im Erdgeschoss abgeholt werden sollte. Der Name des Schalters klang eher danach, als sei das Gepäck bereits abhanden gekommen. Nach drei weiteren Stunden des Wartens und der Ungewissheit rief der Mann hinter dem Schalter meinen Namen. Der Koffer war endlich da. Beinah hätte ich einen Mann, der aussah wie Lufthansa-Vorstandschef Carsten Spohr und der an dem Lost-&-Found-Schalter gut gelaunt vorbei spazierte, auf die Misere angesprochen. Erst heute, wo Flughäfen weltweit im Chaos versinken, weiß ich, wie sehr mich seine Antwort interessiert hätte. Auch wenn die mittlerweile jedes Kind zu kennen glaubt: Personalmangel bei den Gepäckträgern, die sich in der Pandemie neue Jobs suchten, weil das Kurzarbeitergeld nicht zum Leben reichte. Oder so ähnlich. Natürlich gab es auch viele andere, die in der Pandemie den Glauben daran verloren, dass die Welt danach noch sein würde wie vorher. So wie man auch in einem verregneten Sommer gerne vergisst, wie ein sonniger Sommer sich anfühlt. Und so war auch die Lufthansa überrascht davon, dass die Menschen wieder genauso fliegen wollen wie vor Corona.

Man kann aber fragen, ob das Managen von Flughäfen und Fluggesellschaften nicht auch gerade darin besteht, mit einer Rückkehr zur Normalität zu rechnen und rechtzeitig genügend Personal für diesen Fall einzustellen.

Ein Mann, der Lufthansa-Chef Carsten Spohr (Mitte) sehr ähnlich sah, kam am Flughafen Florenz gut gelaunt des Weges, als der Passagier schon seit Stunden auf die Auslieferung seines Koffers wartete. Man hätte ihn einiges fragen wollen, doch so schnell Spohr kam, so unvermittelt war er wieder verschwunden. Foto: Holger Christmann

Zum Glück gibt es Verkehrsmittel, die auch in diesem, an Überraschungen reichen Sommer reibungslos ihren Dienst tun. Ein Genuss war die Bahnfahrt von Florenz nach Bologna mit dem Italo, jenem rubinroten Hochgeschwindigkeitszug, den ein Privatunternehmen, angeführt vom einstigen Verwaltungsratsvorsitzenden von Ferrari, Luca Cordero di Montezemolo, und Tod’s-Gründer Diego Della Valle, 2012 an den Start brachte. Italien hatte das Schienennetz einst für neue Privatanbieter geöffnet, und die beiden Unternehmer erkannten die Chance, das Bahnfahren attraktiver zu gestalten.

Ich war vor zwanzig Jahren mal in Japan. Schon damals wunderte ich mich, wie superpünktlich Züge sogar auf einer Insel fahren können, die jeden Tag von Erdbeben durchgeschüttelt wird  – was mich daran erinnert, dass die Deutsche Bahn es schon damals mit der Pünktlichkeit nicht so genau nahm. Längst hat uns auch Italiens Eisenbahn überholt. Der Italo hielt am Bahnsteig in Bologna genau so, dass die Wagen-Nummern mit den Markierungen auf dem Bahnsteig übereinstimmten. Für die berüchtigte Änderung der Wagenreihung, wie wir sie aus Deutschland kennen, ist hier kein Spielraum.

Als nächstes zeigte sich wieder einmal die Überlegenheit einer inkludierten Platzreservierung. Im Italo stolpert man nicht, wie im deutschen ICE, über Menschen, die im Gang hocken, man muss sich auch nicht an gestressten Fahrgästen vorbeidrängeln, die wegen Überfüllung im Gang stehen müssen, was schon aus Sicherheitsgründen riskant ist. Im Italo hat jeder seinen Sitzplatz. Wer in Frankreich den TGV oder in Italien den Italo besteigt, den beschleicht ein Verdacht: dass die Deutsche Bahn nicht deswegen auf die inbegriffene Sitzreservierung verzichtet, weil sie „jeden mitnehmen möchte“, wie sie großherzig vorgibt, sondern um zu verschleiern, dass ihre Kapazitäten für Stoßzeiten noch nie ausreichend waren und Abertausende den Mangelzustand schon beim Buchen bemerken würde. So verlagert man den Engpass in die Züge – und verdient sogar mit Stehplätzen noch Geld.

Elegant, komfortabel, gut klimatisiert und pünktlich. Im Italo entdeckt man die Freude am Bahnfahren wieder. Foto: Italo-NTV

Das Innere des vom französischen Alstom-Konzern gebauten Italo-Zuges war wohltuend gekühlt. Vermutlich war auch der Espresso im Zugrestaurant ein Genuss, speziell im Vergleich zu dem Filterkaffee, der im ICE angeboten wird. Den Espresso zu probieren, dafür blieb keine Zeit, denn nach 37 Minuten waren wir schon in Bologna. Mit stellenweise 300 Km/h war der Italo die 120 Kilometer lange Strecke durch zahllose Tunnel des Apennin gebraust und erreichte den Zwischenstopp auf der Fahrt nach Triest in einer Schnelligkeit, die ich mit dem Auto vorher nie erreicht hatte. 

Angenehm sind in dem roten Schienenflitzer auch die Ansagen: Sie beschränken sich auf das Wesentliche, ersparen dem Fahrgast geschwäbelte, zweisprachige Aufzählungen von Anschlusszügen, die nicht erreicht werden, und sie werden von einer sehr angenehmen Computerstimme in schönem Italienisch und lupenreinem Englisch gesprochen. Die Computerstimme passt zum unaufdringlichen, technisch reibungslosen Ablauf der Fahrt. Das menschelnde Englisch in der Deutschen Bahn, das Weltläufigkeit suggerieren soll, am Ende aber immer etwas provinziell klingt, passt wiederum zur Deutschen Bahn. Es signalisiert: Wir geben uns beste Mühe, auch wenn wir wissen, dass wir nicht perfekt sind (was Sie auch am geschlossenen Bordbistro, der Signalstörung, dem zu langsamen vorausfahrenden Zug und der defekten Oberleitung erkennen).

Schweizer
Pünktlichkeit
in Italien

Für die Fahrt in dem eleganten Hochgeschwindigkeitszug verlangte Italo bei flexibler Buchung ohne irgendwelche Rabatte 25 Euro. Die Pünktlichkeit ließ nichts zu wünschen übrigen: Die Anzeigetafel am Florentiner Bahnhof Santa Maria Novella verriet, dass von einem Dutzend Hochgeschwindigkeitszügen in den nächsten Stunden nur zwei Züge rund fünf bis zehn Minuten verspätet waren. Das sind Schweizer Verhältnisse – ein himmelweiter Unterschied zu deutschen Bahnhöfen, wo Verspätungen von 90 oder 120 Minuten normal geworden sind. Dazu muss man wissen, dass der Italo und das staatliche Pendant, der Frecciarossa, große Strecken zurücklegen: von Lamezia Terme bis Turin sind es tausend Kilometer. 64 mal am Tag verbindet der High-Speed-Zug allein die Metropolen Mailand und Rom. Die 477 Kilometer legt er in 2:55 Stunden zurück. Weil er bequem, schnell und vor allem zuverlässig ist, nimmt kaum ein Geschäftsmann für die Strecke noch das Flugzeug. Dafür bedurfte es keiner Grundsatzreden von Politikern. Es genügte ein attraktives Angebot.

Selbst an die Vierbeiner wird im Italo gedacht – mit einem Hundedeckchen, das den Teppichboden schont. Foto: Italo-NTV

Warum funktioniert der Bahnbetrieb in Italien so viel besser als in Deutschland? Ein Grund ist die Liberalisierung des Schienennetzes. Der Privatanbieter Italo setzte die staatliche Trenitalia mit einem begehrenswerten Angebot unter Druck, besser zu werden. Heute arbeiten beide Betreiber profitabel (von den Verlusten in der Pandemie abgesehen), und die Staatsbahn kann mit ihren Überschüssen inzwischen auch vernachlässigte Nebenstrecken instand setzen. Die Deutsche Bahn hingegen verkündet Rekordumsätze, macht trotzdem Riesenverluste und nennt sich „unterfinanziert“. Wer mit historischen Rekordumsätzen nicht genug Geld verdient, um seine Infrastruktur instand zu halten, macht der – oder der Staat in seinem Rücken – nicht etwas Grundlegendes falsch? Im ersten Halbjahr 2022 hat die Bahn erstmals wieder Gewinn macht. Den verdankt sie aber laut Handelsblatt dem Erfolg ihrer Speditionstochter DB Schenker. Die transportiert Güter zwar auch auf der Schiene, aber vor allem auf Straßen, in der Luft und auf hoher See.

Man braucht natürlich auch Unternehmer mit hohem Anspruch an Service und Stil, damit die Liberalisierung nicht allein zu Billigangeboten von Flixtrain führt – italienische Männer mit Stil wie Montezemolo und Della Valle.

Zurück zu unserer Heimreise. Als der Lufthansa-Flieger in Frankfurt landete, erlebte ich zu meiner Überraschung fast das Gleiche wie in Florenz. Drei Stunden wartete ich auf mein Gepäck. Die Erklärung dafür entsprach der in Italien: Personalmangel bei den Gepäckträgern.

Nun hatte ich auch noch den Fehler begangen, meinen Koffer erstmals beim sogenannten Air-Rail Check-in einzuchecken, wo er nun auch ankommen sollte. Das hier aufgegebene Gepäck befördert ein Mann mit einem Gepäcktrolley vom automatischen Gepäckband an den Air-Rail-Schalter. Ich fragte mich, ob dieser Zusatz-Service nicht vor allem eine zusätzliche Fehlerquelle und Grund für weitere Verzögerungen darstellt. Es fühlt sich jedenfalls sicherer an, sein Gepäck selbst, wie üblich, am Gepäckband abzuholen.

Nach drei Stunden des Wartens kam ein freundlicher Mitarbeiter und händigte mir den Koffer persönlich aus. Eine sympathische Geste nach einer Reihe von Zumutungen, die jetzt nur deshalb leichter zu ertragen waren, da gleichzeitig drei Stunden lang alle ICEs vom Frankfurter Flughafen in die südliche Richtung ausfielen. Da ich ohnehin am Flughafen fest saß, während ich auf mein Gepäck wartete, war es zum ersten Mal kein Problem, dass der Zug ausfiel.

Aber wird bald alles gut? Vor kurzem meldete die Deutsche Bahn, dass sie ab 1. August Partner der Star Alliance ist. „Von Freiburg nach Singapur: Dafür braucht es nur noch ein einziges Ticket“, frohlockt die Bahn. Wobei das größte Problem aktuell nicht darin besteht , dass man in seinem Handy zwei Tickets abspeichern muss. Weiter heißt es: „Wir vernetzen unsere Angebote so, dass wir die jeweiligen Stärken unserer Verkehrsträger optimal nutzen können.“ Das Ergebnis wird sein, dass sich die Reisezeiten empfindlich verlängern. Denn eine Fluglinie der Allianz wie Singapore Airlines wird kaum Lust haben, jeden Tag Flüge umzubuchen, weil der Zubringerzug 90 Minuten Verspätung hatte und die werten Star-Alliance-Passagiere wieder einmal ihren Flug verpasst haben. Also werden Kombi-Tickets so ausgestellt sein, dass der Kunde zwei Stunden früher anreist. Auch der einsame Trolley-Fahrer am AirRail-Schalter wird künftig noch mehr ins Schwitzen kommen.

©Holger Christmann