Georgien

Showdown am Kaukasus

In Georgien werden Menschen eingeschüchtert, festgenommen und misshandelt, weil sie für die europäische Zukunft ihres Landes auf die Straße gehen. Während die Mehrheit der Bevölkerung den EU-Beitritt will, geht die Regierung auf Kuschelkurs mit Moskau. Vor der Parlamentswahl am 26. Oktober droht sich der Konflikt zuzuspitzen.

VON NINO KOPALIANI UND HOLGER CHRISTMANN
8. Juni 2024
Ein Paar auf einer pro-europäischen Protestaktion in Tbilissi. Die rotweiße Fünfkreuzflagge, seit 2004 Flagge Georgiens, dient ihnen als Umhang. Foto: Ana Dzagania

Kürzlich wurden in der Stadt Lanchkhuti in der westgeorgischen Region Guria ein Lehrer und sein Adoptivsohn von mehreren Männern krankenhausreif geschlagen. Lado Apkhazava ist in Georgien eine Berühmtheit. 2017 wurde er als bester Lehrer des Landes ausgezeichnet. 2019 gehörte er zu den zehn Finalisten des Global Teacher Prize, den die in Dubai ansässige Varkey Foundation in Kooperation mit der Unesco verleiht. Der australische Filmstar Hugh Jackman, Stargast der Verleihungszeremonie, würdigte die Nominierten. Die Täter fingen Lado Apkhazava vor seinem Haus ab. Sie traktierten ihn mit Stöcken und beschimpften ihn als „schlechten Menschen“.

Für Lanchkhuti steht fest, dass der Angriff seiner öffentlichen Positionierung gegen Georgiens Agentengesetz galt. Es verpflichtet NGOs und Medien, die mehr als zwanzig Prozent ihrer Gelder aus dem Ausland beziehen, sich in einem speziellen Register als Organisation einzutragen, „die ausländische Interessen verfolgt“. Das Gesetz folgt einer ähnlichen Regelung in Russland, die NGOs und Individuen als „ausländische Agenten“ einstuft. Gegner befürchten, dass ähnlich wie in Russland kritische Organisationen behindert und mundtot gemacht werden sollen. Inzwischen ist das Gesetz in Kraft. Nachdem die pro-europäische Staatspräsidentin Salome Surabischwili sich geweigert hatte, es zu unterschrieben, hat das Parlament es trotz massiver Proteste aus der Bevölkerung mit einfacher Mehrheit beschlossen.

Schlägertrupps überfallen Oppositionelle

Das politische Klima hat sich für Regierungskritiker in Georgien schon jetzt massiv verschlechtert. Der Angriff auf Lado Apkhazava ist kein Einzelfall. Seit die Proteste gegen das Gesetz vor einem Jahr begannen, werden Vertreter der pro-europäischen Zivilgesellschaft bedroht oder bekommen Besuch von Schlägertrupps: Im März 2023 traf es Lazare Grigoriadi, eine Symbolfigur der Proteste gegen das Agentengesetz. Weil er angeblich einen Molotov-Cocktail auf einen Polizisten geworfen hatte, verurteilte ihn das Stadtgericht der Hauptstadt Tbilissi zu neun Jahren Haft. Staatspräsidentin Salome Surabischwili begnadigte ihn. Am 14. Mai zerrte die Polizei Grigoriadi jedoch erneut aus einer Menge von Demonstranten heraus. Nach 48 Stunden ließ sie ihn wieder frei. Einem Nachrichtenportal berichtete der Betroffene: „Ich habe überhaupt nicht verstanden, warum ich verhaftet wurde. Sie schlugen uns, beschimpften uns und nahmen uns mit.“ Ein Polizist habe ihn mit dem Satz angesprochen: „Du schon wieder“.

Lado Apkhazava, ein landesweit bekannter und preisgekrönter Lehrer, wurde vor seiner Haustür attackiert. Foto: Global Teacher Prize
Dimitri Chikovani, Mitglied der Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung, wurde von einem Schlägertrupp die Nase gebrochen. In einem TV-Interview nannte er die Täter „Putins Marionetten“. Foto: Sky News

Am 8. Mai dieses Jahres wurde Dimitri Chikovani, Parteisekretär der von Ex-Präsident Mikheil Saakashvili gegründeten Oppositionspartei Nationale Bewegung in Sololaki im Zentrum von Tbilisi verprügelt. Gleiches widerfuhr Gia Japaridze, einem Experten für Internationale Beziehungen. Davit Katsarava, Gründer der „Bewegung der Anti-Okkupation“, wurde auf eine Demonstration verhaftet und von Schlägern so zugerichtet, dass sein Kopf deformiert und sein Kiefer gebrochen war.

Die Mehrheit ist für den Beitritt zur EU

Inzwischen sind mehr als 150 Protestierende festgenommen worden. Die Staatsanwalt nahm Ermittlungen gegen prügelnde Polizisten auf. Bislang ist jedoch kein Ordnungshüter verurteilt worden. Das Agentengesetz gilt aus Sicht seiner Kritiker vor allem pro-europäischen Medien und NGOs. Laut Umfragen befürworten 89 Prozent der Bevölkerung Georgiens einen Beitritt zur EU. Dieses Ziel ist in Artikel 78 der Verfassung Georgiens formuliert: „Die Verfassungsorgane treffen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle Maßnahmen, um die vollständige Integration Georgiens in die Europäische Union und die Nordatlantikvertrags-Organisation zu gewährleisten“, heißt es dort. Seit Dezember vergangenen Jahres hat Georgien den Status eines EU-Beitrittskandidaten.

Demonstrationen in Tiblissi halten Transparente mit den Aufschriften „Nein zu russischem Gesetz!“, „Wir wollen eine europäische Zukunft“. Foto: Ana Dzagania

Die Regierungspartei „Georgischer Traum – Demokratisches Georgien“ setzt ihren pro-russischen Kurs fort. Strippenzieher im Hintergrund ist ihr Gründer Bidsina Iwanischwili, ein Milliardär, der sein Vermögen vor allem mit Geschäften in Russland gemacht hat. Er ist der reichste und einflussreichste Mann Georgiens. Die georgische Sektion von Transparency International nennt Iwanischwili den Architekten der pro-russischen Kehrtwende in Georgiens Politik. 

Die Distanzierung seiner Partei von Europa zeigte sich, als Russland im Februar 2022 seinen Krieg gegen die Ukraine massiv ausweitete. Während Georgiens Bevölkerung auf vielfältige Weise ihr Mitgefühl und ihre Unterstützung für das ukrainische Volk zeigte, hielt sich die Regierung mit Kritik an Russland auffällig zurück. Sie ermahnte die Bevölkerung, den großen Nachbarn nicht zu verärgern und malte das Gespenst eines Krieges an die Wand. Damit rief sie Erinnerungen an den Kaukasuskrieg 2008 wach, als das Zerwürfnis zwischen dem westlich gesonnenen Regierungschef Mikheil Saakashvili und Russlands Präsident Wladimir Putin eskalierte und zum Krieg um die autonome Republik Südossetien führte. Seit dem Ende des Krieges ist die Region von Russland besetzt, obwohl sie völkerrechtlich nach wie vor zu Georgien gehört.

Vor allem junge Menschen demonstrieren in den Straßen von Tiblissi für die Westorientierung ihres Landes. Foto: Ana Dzagania

Das Agentengesetz ist der nächste Schritt hin zu einer Annäherung an Russland. Bereits im letzten Jahr hatte die Regierung es im Parlament vorgestellt, es nach Massenprotesten jedoch zurückgenommen. Damals versprach die Regierung, sie werde es nicht wieder einbringen. Bis zuletzt versicherte sie auch, das Gesetz betreffe nicht Privatpersonen, sondern nur NGOs, Medien und Organisationen. Tatsächlich nahm sie während der zweiten Plenarsitzung ohne Anhörungen im zuständigen Ausschuss eine Ergänzung auf, die sehr wohl Privatpersonen betrifft. „Bevollmächtigte des Justizministeriums“ haben umfassende Rechte, die Bevölkerung auszuschnüffeln – bis hin zur Ausforschung des Sexuallebens. Wer Angaben verweigert, dem blüht eine Geldstrafe in vierstelliger Euro-Höhe. Die Strafe ist auch dann zu zahlen, wenn das Berufungsverfahren vor Gericht noch läuft.

Der Kreml wollte Georgisch als Amtssprache abschaffen

Ministerpräsident Irakli Kobachidse verbreitete Verschwörungstheorien über die „globale Kriegspartei“, für ihn ein Synonym für den Westen. Er beschwört Georgiens einzigartige Traditionen, die durch diese Allianz von Staaten in Gefahr seien. Wie Putin behauptet er, der Westen stifte in ehemaligen Sowjetrepubliken Unruhe. Dabei war die vielbeschworene heilige Triade der Identität des georgischen Volkes – Vaterland, Sprache, Glaube – historisch mehr von Russland als vom Westen bedroht.

1978 versuchte der Kreml sogar, Georgisch als Amtssprache des Landes abzuschaffen und durch Russisch zu ersetzen. Demonstrationen von bis zu 20.000 Menschen vor dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei Georgiens sorgten damals dafür, dass deren Erster Sekretär, Eduard A. Schewardnadse, die Entscheidung zurücknahm.

Eine Familie demonstriert gemeinsam für eine europäische Zukunft Georgiens. Foto: Ana Dzagania

Kakha Kaladze, Bürgermeister von Tbilissi, versuchte die Bürger über Facebook – Hauptkommunikationsquelle der Bevölkerung – für das Agentengesetz zu gewinnen. Kaladze, ein ehemaliger Fußballprofi, der als Spieler des AC Mailand 2006 die Champions League gewann und Kapitän von Georgiens Nationalmannschaft war, veröffentlichte einen Post mit dem Inhalt „Nein zum russischen Gesetz, Ja zum georgischem Gesetz, würdevoll nach Europa“. Sein Versuch, den russischen Einfluss zu leugnen, sorgte für eine Flut negativer Kommentare und Auslach-Smilies.

Offenbar verärgert über die Reaktionen, forderte Kaladze Erzieherinnen und Erziehern in den Tbillisser Kitas auf, seinen Post zu liken und wohlwollend zu kommentieren. Schulen und Kinder sollen nun mithelfen, die Bevölkerung auf Regierungslinie einzuschwören. Lokale Zweigstellen des Bildungsministeriums, die sogenannten Resource Center, forderten Schuldirektoren und Eltern auf, ihren Schülerinnen und Schülern die Teilnahme an Protesten zu verbieten. Universitäten und Institute sowie Lehrer und Lehrerinnen, die gegen das „russische Gesetz“ Stellung nahmen, wird mit Repressionen gedroht. Eltern erhalten Anrufe von örtlichen Vertretern des Bildungsministeriums und werden aufgefordert, Lehrerinnen und Lehrer zu melden, die eine kritische Diskussion über das Agentengesetz in der Schule zulassen. Diese Anstiftung zur Denunziation erinnert viele in Georgien an den Überwachungsstaat der Sowjetunion, unter dem zahlreiche Dissidenten und Intellektuelle litten.

Viele wollen die Registrierung verweigern

Die Regierung wäscht derweil ihre Hände in Unschuld. Mitglieder der Regierung verdrehen Tatsachen und streiten alles ab, was ihnen vorgeworfen wird. Sie verkaufen ihre Taten als Patriotismus. Sie stellen sich als Retter des Landes und seiner Traditionen dar, und bei jeglicher oppositionellen Meinung fragen sie: „Wollt ihr lieber Krieg wie in der Ukraine?“

Am 14. Mai verabschiedete die Regierung das Agentengesetz, inzwischen ist es in Kraft. In zwei Monaten soll die Online-Registrierung der Nichtregierungsorganisationen beginnen. Bei Verstößen gegen die Rechenschaftspflicht drohen zuerst Geldbußen. Kacha Kaladse kündigte an, Organisationen, die sich nicht registrieren lassen, ihr Vermögen zu entziehen. Dann würden sie geschlossen. Betroffene Organisationen sagen, sie wollten sich dennoch nicht einschüchtern lassen und die Registrierung verweigern. Vor allem die jungen pro-europäisch gesinnten Menschen in Georgien wollen sich nicht damit abfinden, dass ihre Heimat Russland auf dem Silbertablett serviert wird, nachdem ihre Vorfahren Jahrhunderte gegen die Russifizierung kämpften. 

Welche Rolle spielen russische Migranten?

Eine offene Frage ist, welche Rolle die vielen Russen spielen werden, die seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nach Georgien geflohen sind. Viele von ihnen haben Wohnungen gemietet und Unternehmen angemeldet, was den Eindruck vermittelt, dass sie nicht beabsichtigen, das Land wieder zu verlassen. Es häufen sich Berichte, wonach Russen ihre Mieten nicht zahlen. Rechtlich gibt es keine Möglichkeit für Vermieter, ihnen deswegen zu kündigen. Stand November hielten sich nach Angaben des Innenministeriums 112.000 russische Staatsbürger in Georgien auf. In den georgischen Großstädten, allen voran in Tbilissi, ist Russisch auf den Straßen allgegenwärtig. Die Flüchtlinge benehmen sich oft nicht wie Gäste, sondern wie Besatzer: Sie sprechen die Georgier auf Russisch an und erwarten, dass ihnen auf Russisch geantwortet wird. Unverständnis zeigen sie, wenn Georgier sich weigern, ihnen in ihrer Sprache zu antworten. Cafés und Restaurants zeigen sich kreativ und bieten Zugang zu W-Lan nur durch die Eingabe von Passwörtern wie „Russia is an occupier“. Die russischen Immigranten verschärfen nicht nur den Wohnungsmangel. Sie lösen auch die Sorge aus, dass unter ihnen Provokateure sein könnten oder dass die schiere Zahl von Russen in Georgien Putin den Vorwand für ein militärisches Eingreifen geben könnte. 

Bis zu 200.000 Menschen nahmen in der Hauptstadt Tiblissi an Demonstrationen gegen das Agentengesetz teil. Foto: Sopho Abashidze

Die Pro-Europäer in Georgien wollen alles tun, damit das Land nicht wieder ein Vasall des Kremls wird. Sie hoffen auf die Parlamentswahlen am 26. Oktober. Dann haben die Georgier die Möglichkeit, die Regierungspartei Georgischer Traum abzuwählen.

Kann die Präsidentin die Wahl gewinnen?

Georgische Emigranten fordern die Eröffnung von Wahllokalen im Ausland, um an der Parlamentswahl teilnehmen zu können. Obwohl ein Drittel der Georgier und Georgierinnen (über 1 Million) aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage Georgiens gezwungen ist, im Ausland zu leben und zu arbeiten, ist nicht zu erwarten, dass die Regierung die Teilnahme an Wahlen im Ausland zulässt, denn sie kennt die Wahrheit: Auch die Mehrheit der Migranten sieht Georgiens Zukunft im Bündnis mit Europa. Die Menschen im Ausland und in Georgien, vor allem die jungen, werden weiter für die Westorientierung des Landes kämpfen. 

Ihre Hoffnungsträgerin ist die Staatpräsidentin Salome Surabischwili. Sie ruft die Gesellschaft jetzt dazu auf, ihre Mobilisierung bis zur Parlamentswahl aufrechtzuerhalten. Surabischwili stellte eine Charta vor, die von den pro-europäischen Parteien unterzeichnet werden soll. Sie sollen sich verpflichten, nach der Wahl alle Gesetze zurückzunehmen, die im Widerspruch zu Georgiens europäischem Weg stünden. Die Charta sieht Maßnahmen zur Schaffung einer unabhängigen Justiz, gegen den Machtmissbrauch durch die Sicherheitskräfte und für die Korruptionsbekämpfung vor. Mehrere Oppositionsparteien haben signalisiert, sich der Initiative anzuschließen.

Das Vereinigten Staaten verhängten am 6. Juni als Reaktion auf die Verabschiedung des Agentengesetzes Visabeschränkungen für Dutzende von Beamten, Mitgliedern der Regierungspartei Georgischer Traum, Strafverfolgungsbeamte, Gesetzgeber und ihre Familienangehörigen. Diese Personen hätten die Demokratie in Georgien untergraben, etwa durch die Aushöhlung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den gewaltsamen Angriff auf friedliche Demonstranten, die Einschüchterung von Vertretern der Zivilgesellschaft und die absichtliche Verbreitung von Desinformationen auf Anweisung der georgischen Regierung, erläuterte der Sprecher des Außenministeriums, Matthew Miller.

Er äußerte zugleich die Hoffnung, dass die georgische Führung ihr Handeln überdenke und Schritte unternehme, „um die seit langem erklärten demokratischen und europäisch-atlantischen Bestrebungen ihres Landes zu verwirklichen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, sind die USA bereit, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen“.  Auch die EU will über Sanktionen beraten, muss jedoch damit rechnen, dass sich russlandfreundliche Regierungschefs wie Viktor Orbán vorerst querstellen.

Um sich gegen Sanktionen abzusichern, hatte Georgiens Regierung ein Gesetz erlassen, das den Zufluss von Offshore-Geld nach Georgien erleichtert. Die Betroffenen reagierten trotzig auf mögliche Sanktionen: „Wenn wir für den Dienst und die Liebe unserer Heimat sanktioniert werden, dann soll es so sein – wir lassen uns vom Westen nicht einschüchtern!“, hieß der Tenor unisono. Trotzdem wird es sie schmerzen, dass ihre Reisefreiheit eingeschränkt ist und sie ihre guterzogenen Kinder, die sie gern auf amerikanische Universitäten schicken, dort nicht mehr besuchen können. Im Moment scheint es, als halte Georgien den Atem an. Alle warten ab, was als nächstes passiert und ob sich die Ereignisse weiter so überschlagen wie in den letzten Wochen. Georgien, soviel steht fest, wird bis zu den Wahlen nicht zur Ruhe kommen.

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