Report

Verwundete Pracht

Vor einem Jahr verwüstete eine Explosion in Beirut wertvolle historische Bausubstanz. Dia Mrad, ein junger Architekt und Interiorfotograf, hat sich der Rettung dieses Kulturerbes verschrieben. Erstmals erzählt er einem deutschsprachigen Medium seine Geschichte. Exklusiv veröffentlichen wir seine Aufnahmen.

VON HOLGER CHRISTMANN
FOTOS: DIA MRAD
4. August 2021

Dia Mrad: Always forever. Sursock Palace, Beirut, 5. August 2020. Der Palast aus dem 19. Jahrhundert ist der Wohnsitz der Adelsfamilie Sursock. Seine herrliche Lage mit unverstelltem Blick aufs Meer wurde ihm zum Verhängnis. Als die Druckwelle vom Hafen anrollte, traf sie frontal auf den Sursock-Palast. Die filigrane, dreibögige Fensterfront des Piano Nobile war ihr erstes Opfer. Foto: Dia Mrad

Den Abend des 4. August 2020 wird Dia Mrad nie vergessen. Der 30-jährige Architektur- und Interiorfotograf und gelernte Architekt fotografierte auch an diesem Tag im Auftrag einer Immobilienfirma Häuser und Wohnungen. Ein Apartment hatte er noch vor sich. Dafür musste er ins trendige Beiruter Hafenviertel Mar Mikhaël fahren. Kurz nach 18 Uhr hielt er mit seiner Vespa am Straßenrand an, um auf seinem Handy noch schnell die Adresse zu suchen, als er eine Detonation hörte. Ihm blieb kaum Zeit, sich zu fragen, woher der Donner kam und was er bedeutete, da ertönte schon die zweite, um ein Vielfaches heftigere Explosion, deren Druckwelle ihn mit seinem Motoroller umstieß. Als er sich von dem noch dröhnenden Motorrad befreit hatte, nahm er wahr, dass die Menschen um ihn herum in Panik in die Geschäfte rannten, um dort Schutz zu suchen.

„Die Luft war voller
Partikel, die wie Nadeln
auf der Haut piksten“

„Es gab Gerüchte, dass es ein Terroranschlag war oder ein Luftangriff“, berichtet er in einem Gespräch mit diesem Magazin über Zoom. Was allerdings wirklich passiert war, erfuhren die Libanesen noch am selben Abend aus den Nachrichten. Ministerpräsident Hassan Diab gab bekannt, dass sich 2750 hochexplosive Tonnen Ammoniumnitrat, 2013 von den libanesischen Behörden von einem Frachter konfisziert und unbeaufsichtigt in einer Lagerhalle am Hafen abgestellt, aus noch unbekanntem Grund entzündet hätten und explodiert seien. Die Sprengkraft der Detonation entsprach der von 1100 Tonnen TNT. Sie war bis Zypern zu spüren. Mehr als 200 Menschen starben durch die Wucht der Explosion, über 6000 wurden verletzt. 300 000 Menschen verloren in Sekunden ihr Dach über dem Kopf.

Dia Mrad: Icon. Das Innere des Sursock-Palast am Tag nach der Katastrophe vom 4. August 2020. Foto: Dia Mrad

Dia Mrad blieb zum Glück unverletzt. „Die Luft war voller Partikel, die wie Nadeln auf der Haut piksten“, sagt er. Die Reifen seiner Vespa waren durch die Druckwelle geplatzt. Trotzdem brachte er noch eine verletzte Frau ins Krankenhaus. Dann kehrte er nach Mar Mikhaël zurück, um die Auswirkungen der Explosion mit seiner Kamera zu dokumentieren. Anschließend sah er sich im Viertel Gemmayze um. In beiden Vierteln leben vor allem Christen. Mar Mikhaël, benannt nach der maronitischen Kirche Sankt Michael, liegt am Hafen und war traditionell das Viertel der Kunsthandwerker. Vor zehn Jahren entdeckten Investoren den noch nicht gentrifizierten Bezirk. Sie verwandelten Mar Mikhaël in eine lebendige Ausgehmeile mit Galerien, Bars und renovierten Apartments. Das sich daran anschließende Gemmayze mit der Rue Gouraud hat Tradition als bürgerliches schickes Wohn- und Ausgehviertel im Herzen Beiruts. Hier reihen sich historische Paläste an Kunstgalerien, Boutiquen, Bars und Restaurants. „Die meisten kreativen Räume sind in Gemmayze“, sagt der Fotograf, „die Studios, die Agenturen, die Medien, alles, was mit Kunst und Kultur zu tun hat.“ Die Explosion traf Beirut gerade dort, wo es besonders kreativ, charmant und lebenswert ist.

Sursock-Palast, Beirut, 28. Juli 2020 – eine Woche vor dem Unglück. Foto: Dia Mrad
Der Tag nach der Explosion: Sursock-Palast, Beirut, 5. August 2020. Foto: Dia Mrad

In beiden Stadtvierteln machte die Druckwelle Gebäude dem Erdboden gleich, riss Dächer und Wände aus der Verankerung, zerbarst Fenster, auch solche mit wertvollen Glasmalereien, schleuderte Menschen, Objekte und Splitter quer durch Wohnungen und Büros. Die meisten Gebäude in den betroffenen Gegenden Ashrafieh, Gemmayze und Mar Mikhaël stammen noch aus dem Osmanischen Reich und aus der Zeit des französischen Mandats in den 1920er Jahren. Hier verschmelzen osmanische und europäische Stilelemente. Typisch für die Häuser aus osmanischer Zeit sind die oft mit Buntglas verzierten Fassadenbögen. Sie sorgen dafür, dass viel Tageslicht in die Salons Beiruter Paläste dringt. Viele dieser Bögen pulverisierte die Explosion, wie Geschosse schnellten die Buntglasscherben durch die Wohnungen und verletzten oder töteten Menschen. Wo Bögen und Glaskunst vom ästhetischen Sinn des Beiruter Bürgertums kündeten, blieben Schutt und Scherben, und mitten in den historischen Fassaden gähnten nun übermannshohe Löcher. Dia Mrad kamen sie vor wie offene Münder, die das Entsetzen über das Geschehene ausdrückten.

Die Explosion traf vor allem die christlichen Viertel Beiruts, die nach dem Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 nicht abgerissen, sondern restauriert worden und somit erhalten geblieben waren. Mrad sorgt sich, „dass jetzt Epochen der Architekturgeschichte verloren gehen“. Er hofft, dass die Bauwirtschaft nicht die Fehler wiederholt, die sie damals im nahen Stadtzentrum beging. Für die Immobilienwirtschaft war es profitabler, ganze Straßenzüge neu zu bauen, als historische Baubsubstanz zu retten. Das Ergebnis waren Neubauten mit historisierenden Fassaden.

Auch europäische
Kunst wurde
beschädigt

Am Tag nach der Katastrophe sah sich Dia Mrad in Aschrafieh um, dem wohlhabendsten christlichen Viertel Beiruts. Hier steht das Anwesen der Sursock-Dynastie, einer der geschichtsträchtigen „sieben Familien“ der Stadt. Die Sursocks waren im Osmanischen Reich im Getreide- und Baumwollhandel und im Bankgeschäft tätig. Sie galten als die „Rothschilds des Ostens“. Ihr Palast ist eine Schatzkammer der Kunst. Die Sammlung europäischer Kunst geht auf Alfred Sursock zurück, der die italienische Adlige Maria Serra di Cassano heiratete. Sie war die Tochter von Francesco Serra, dem siebten Herzog von Cassano und brachte die Kunst, darunter Barockgemälde, wohl aus Italien mit. Eine Berühmtheit war Alfred Sursocks Tochter Yvonne Sursock, die nach ihrer Heirat mit dem irischen Baron Desmond Cochrane als Lady Cochrane bekannt war. Sie galt als die Grande Dame der High Society von Beirut und war eine bedeutende Kulturmäzenin. 1960 gehörte sie zu den Gründern der Gesellschaft für Naturschutz und für die Erhaltung alter Gebäude (Apsad). Sie war auch Gründungsmitglied des Baalbek International Festival. Die Times nannte Lady Cochrane eine „elegante, wenn auch dickköpfige Verteidigerin des Kulturerbes des Libanon“. Welches Ansehen das Kulturengagement der Familie Sursock weit über den Libanon hinaus genießt, unterstrich die Generaldirektorin der Unesco, Audrey Azoulay, als sie bei ihrer Reise nach Beirut Ende August letzten Jahres auch den Sursock-Palast besuchte, um sich dort ein Bild von den Schäden zu machen.

Das Quantum-House im Stadtviertel Gemmayze nach der Explosion. Das Bild des Philosophen Khalil Gibran blickt traurig aus dem verwüsteten Konferenzraum der Agentur Saatchi & Saatchi hervor. Die Aufnahme machte Dia Mrad schlagartig international bekannt. Foto: Dia Mrad

Mrad interessierte, ob der Palast noch intakt war, der auf einer Anhöhe thront. Aber die privilegierte Lage wurde dem Anwesen zum Verhängnis. Der Sursock-Palast bietet den unverstellten Blick auf Hafen und Mittelmeer. Das bedeutete aber auch, dass kein Hindernis die Druckwelle auf ihrem Weg zu dem historischen Juwel abbremste. Mit verheerenden Folgen: Das ganze Gebäude wurde in den Grundfesten erschüttert. Die Grande Dame Beiruts, Lady Cochrane, erlitt schwere innere Verletzungen, denen sie am 31. August, knapp vier Wochen nach der Explosion, erlag. Ihre Schwiegertochter Mary (sie ist verheiratet mit Roderick Sursock Cochrane) wurde durch die Luft geschleudert, war zeitweise bewusstlos, überlebte aber. Kunstwerke wurden durch die Explosion schwer beschädigt, die Kopie einer Darstellung Johannes des Täufers aus dem Umkreis des Bologneser Barockmalers Guercino wurde regelrecht zerfetzt. Als der Architekturfotograf am 5. August die Ruine betrat, kamen ihm die Tränen. „Das halbe Dach war weg. Der ganze Palast schien zu bröckeln, und er wäre vermutlich später eingestürzt, wenn nicht die Notabstützung und das Gerüst an der vorderen Fassade installiert worden wären. Dinge fielen herab. Ich war in einem Schockzustand. Ich konnte nicht aufhören zu weinen“, sagt er.

Er ging zu Fuß weiter zum benachbarten Quantum-Haus, ebenfalls in der eleganten Sursock Street gelegen. Das Quantum-Haus war die Familienresidenz von Alexandre Nicolas Sursock. In den 1940er Jahren ging die dreigeschossige Villa in den Besitz der Familie Mokbel über, weshalb sie auch als Villa Mokbel bekannt ist. 2008 erwarb die Werbeagentur Saatchi & Saatchi das Haus. „Das Quantum-Haus ist wie die anderen palastartigen Villen der Sursock Street Teil unseres Kulturerbes“, sagt Mrad.

Das Quantum-House am Tag nach der Explosion. Anstelle der schönen Dreibogenfenster, die typisch für Beirut sind, gähnt ein Loch. Foto: Dia Mrad

Die Druckwelle sprengte einen Teil der Außenwand weg. In der Agentur schleuderte sie Mitarbeiterinnen durch ihre Büros. Der CEO der Agentur hätte wohl nicht überlebt, hätte er den hart getroffenen Konferenzraum nicht kurz vorher verlassen. „Dort arbeiteten Menschen, die diese Villa als zweites Zuhause empfanden. Sie haben mitgeholfen, das Gebäude zu dekorieren, als es vor zehn Jahren renoviert wurde“,  erläutert Mrad. Durch die zerbrochene, teils offene Hauswand erkannte Mrad ein Porträt des libanesischen Künstlers und Philosophen Khalil Gibran. Neben dem Bild stand ein Zitat des libanesischen Nationaldichters: „All unsere Worte sind nur Krümel, die vom Festmahl des Geistes fallen.“ „Das sollte die Mitarbeiter inspirieren, sie dazu animieren, offen zu sprechen und ihre Ideen einzubringen“, so Mrad.

Doch das Unglück des 4. August schien auch bei Khalil Gibran stummes Entsetzen hervorzurufen. So wirkt es zumindest auf den Mrads Bildern. Es schien ihm, dass der Philosoph auf dem Wandbild wütend und traurig aussah, so als würde seine Mimik Betroffenheit über die Ereignisse des Vortags ausdrücken. „Sein Blick drückt aus, was die meisten von uns fühlen“, sagt Mrad. Er veröffentlichte das Bild der abgerissenen Hausecke mit dem Konterfei des Intellektuellen auf Instagram. Es wurde tausende Male geteilt und sorgte dafür, dass Dia Mrads Arbeit international bekannt wurde. Die arabische Ausgabe der Vogue druckte das Foto ab. Im Herbst 2020 kam ein Abzug – die erste von acht Editionen – in Los Angeles bei einer Charity-Auktion zugunsten des Wiederaufbaus von Beirut unter den Hammer. Das Foto brachte es auf 5.500 Dollar. „Es war das Los mit den meisten Geboten“, sagt Mrad stolz.

Plötzlich wurde er anders wahrgenommen. „Seither bin ich für viele nicht nur jemand, der hinter der Kamera steht, sondern jemand, der am Wiederaufbau beteiligt ist, der durch die Fotografie hilft“, sagt er. Er macht seine Fotos zugänglich für Betroffene, die sich um Fördergelder für den Wiederaufbau bewerben. Zusammen mit NGOs dokumentiert er fotografisch den Wiederaufbau. Schon vor der Explosion machte er von den Balkonen schicker Apartments regelmäßig Aufnahmen historischer Gebäude. Das umfangreiche Archiv, das er damit anlegte, ermöglicht es ihm und Kulturerbeschützern Vorher-Nachher-Zustände zu vergleichen. Der 30-jährige Architekt packt aber auch selbst mit an, wenn es darum geht, historische Balkone oder eines der Fenster mit den drei Bögen wieder herzurichten.

Die Villa des Modedesigners Elie Saab in Beirut. Auch hier hinterließ die Explosion schwere Schäden. Foto: Dia Mrad

In den letzten Monaten freundete er sich mit Mary Sursock an. Auch sie war anfangs skeptisch, dachte, Mrad sei einer jener Knipser, die von Sensationslust getrieben sind. Dann merkte sie, dass Mrad aus Liebe zur Architektur fotografiert. Immerhin hat er Architektur studiert und sattelte nur deshalb auf die Fotografie um, weil er als Architekt aufgrund der Wirtschaftskrise des Landes keinen Job fand.

Mrad spricht bewundernd über die Aristokratin. „Sie ist sich nicht zu schade, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie begutachtet selbst die Schäden an dem Familienpalast, entfernt Putz, legt alte Farbschichten frei, entfernt Fliesen, um die Plattenstruktur freizulegen und zu verstehen, wie man sie reparieren kann, und sie arbeitet Hand in Hand mit Architekten und Denkmalschutzexperten zusammen“, schwärmt er. Mary Sursock betreibt auf ihrem Anwesen ein Keramikstudio, in dem sie töpfert.  Eine NGO hilft ihr jetzt dabei, ihr Atelier wiederaufzubauen. Eines ihrer Ziel sei es, ein Artist-in-Residence-Programm auszuschreiben und in der Etage über ihrem Atelier Künstler zu beherbergen, berichtet Mrad. Ein Teil des Sursock-Palastes soll zum Museum werden.

Die Villa Dagher im Viertel Gemmayze. Sie wurde 1869 gebaut und ist Teil des reichen architektonischen Erbes von Beirut. Seit 2019 dient sie dem Modedesigner Rabih Kayrouz als Atelier. Foto: Dia Mrad
Die Villa Dagher nach dem Unglück. Die Schäden an Balkon und Mauerwerk sind erkennbar, lassen jedoch nicht erahnen, wie sehr im Innern Decken und Wände vom Kollaps bedroht waren. Foto: Dia Mrad

Die Erbin öffnete ihm die Türen zu anderen betroffenen Häusern. So zur verwüsteten Villa des libanesischen Modedesigners Elie Saab. Der Couturier, der Royals und Hollywoodstars einkleidet, restaurierte im Viertel Gemmayze eine Villa aus der Zeit des Osmanischen Reichs. Sie ist im typischen Stil libanesischer Villen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erbaut, mit großer Halle im Zentrum, die durch Fenster aus drei neugotischen Bögen mit Licht durchflutet wird. Die Explosion zersplitterte die historischen Fenster, hob Türen aus den Angeln, schleuderte Möbel durch die Luft und zertrümmerte osmanische Kronleuchter und Perlmuttspiegel. In der Fassade des Hauses gähnte ein Loch.

Alten Palästen
droht der Einsturz

Ein Problem ist die Finanzierung des Wiederaufbaus. Die Weltbank schätzte die Schäden auf 4,6 Milliarden US-Dollar. 640 historische Gebäude wurden schwer beschädigt sind, 60 drohte der Einsturz, auch 163 Schulen wurden zerstört oder schwer beschädigt. Allein die Rettung des Sursock-Palasts wird nach Schätzungen der Familie mehrere Millionen Euro kosten. Unterstützung bekam das Adelsgeschlecht von der Initiative ReStart Beirut, einem Fond der belgischen König-Baudouin-Stiftung sowie von der Aliph Foundation, einer privaten Stiftung für den Schutz von Kulturerbe in Konfliktgebieten. Bauingenieure bewahrten den Palast mit einem Spannring vor dem Einsturz. Sie stützten Wände und Decken und dichteten Löcher im Dach ab. „Regen gehört zu den größten Gefahren des Kulturerbes von Beirut. Die alten Gebäude sind großteils aus Sandstein gebaut“, erklärt er. Aber nicht nur Regen ist gefährlich. „Risse in Wänden können harmlos aussehen, aber sich so ausweiten, dass ganze Fassaden einstürzen“, warnt Dia Mrad.

Dia Mrad: Triple Threat.

„Manche hier denken, dass Familien wie die Sursocks reich genug sind, für die Rettung ihres Palastes selbst aufzukommen“, sagt Dia Mrad. Er bezweifelt jedoch, dass die Familie solche Beträge aufbringen kann. Denn ein Problem trifft alle Libanesen mehr oder weniger gleich. Die Banken, die in einer Art Schneeballsystem jahrelang höhere Zinsen boten, als sie am Ende bedienen konnten, bis sie vor der Zahlungsunfähigkeit standen, limitierten schon vor der Coronapandemie aus Angst vor einem Bankensturm die Höhe von Abhebungen. „Selbst wenn Leute Millionen auf der Bank haben, kommen sie nicht ran“, bedauert Mrad.

Das Problem betrifft auch prominente Namen der High Society von Beirut wie die Sursocks oder die libanesische Franchise-Nehmerin eines berühmten französischen Luxuslabels – Mrad möchte ihren Namen lieber nicht nennen. Sie war in ihrem Haus, als die Silos am Hafen in die Luft flogen, und sie wurde schwer verletzt. „Die Familie wollte niemanden um Hilfe bitten. Doch auch ihr Geld steckt auf der Bank fest“, sagt der Fotograf. „Ihr Haus sollte eigentlich schon lange restauriert werden, die Genehmigung dafür verzögerte sich jedoch über sieben Jahre. Wäre es renoviert gewesen, hätte es der Wucht der Explosion eher standgehalten“, führt er aus. Die Nachlässigkeit des Staates, sie hat sich hier gleich doppelt gerächt. Es gab andere Fälle, da hatten Eigentümer ihre Häuser frisch saniert und müssen jetzt wieder bei Null anfangen.

Haus in Gemmayze, 13. Mai 2020. Foto: Dia Mrad
Dieselbe Fassade nach dem Unglück. Foto: Dia Mrad

Wer aber bezahlt den Wiederaufbau? Wer haftet für die entstandenen Schäden? Ein Geheimdienstbericht machte die Hafen- und Zollbehörde für das Unglück verantwortlich. Sie habe um die Gefährlichkeit des Ammoniumnitrats gewusst und die Befugnis besessen, es zu entsorgen. Die Strafverfolgungsbehörden ermitteln gegen den Ex-Ministerpräsidenten Hassan Diab und drei frühere Minister wegen Fahrlässigkeit mit Todesfolge. Diab und seine Regierung hatten kurz nach der Explosion ihren Rücktritt erklärt und sind nur noch geschäftsführend im Amt. Dem neuen Regierungschef Saad Hariri gelang es nicht, ein Kabinett zu bilden. Zu groß waren die Animositäten zwischen dem Sunniten Hariri und Präsident Michel Aoun, einem Christen, zu tief ist die Spaltung des Landes in Konfessionen und Parteien. Nun soll der Milliardär Nadschib Mikati als Premierminister eine Regierung bilden, während der Libanon wirtschaftlich weiter auf den Abgrund zusteuert und internationale Finanzhilfen an die Bildung einer handlungsfähigen Regierung geknüpft sind. Mrad ist wütend: „Es ist unfair: Menschen saßen in ihren Häusern und wurden Opfer einer Denotation, die ein Ergebnis der Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit der Regierung war. Ob man arm, Mittelklasse oder reich ist, niemand sollte für Schäden aufkommen müssen, die von der Inkompetenz der Mächtigen verursacht worden sind“, findet der Fotograf.

Der Fotograf und das Bild, das ihn bekannt machte: Dia Mrad im Juli 2021 in seiner Ausstellung The Road to Reframe.

Die internationale Gemeinschaft sagte derweil Hilfe zu: Die UN-Kulturorganisation Unesco versprach, im Rahmen ihrer Hilfskampagne Li Beirut 500 Millionen Dollar für den Wiederaufbau von Beirut einzusammeln. Eine Millionen Euro sagte Italien für die Renovierung des Sursock-Museums zu. Auch Frankreich unterstützt den Wiederaufbau des Sursock-Erbes. Deutschland gibt 500 000 Euro für die Absicherung historischer Gebäude. Reiche Libanesen spendeten Geld aus dem Ausland. Auch Prominente helfen mit: Filmstar George Clooney und seine Frau Amal, die 1978 in Beirut geboren ist, spendeten dem libanesischen Roten Kreuz und anderen Wohltätigkeitsorganisationen 100 000 Dollar. An helfenden Händen fehlt es nicht. Nach der Explosion vom 4. August 2020 schlossen sich Ingenieure, Architekten, Restautoren und verschiedene NGOs zur Beirut Heritage Initiative zusammen, um die Wiederaufbau zu koordinieren. Zu den Nicht-Regierungsorganisationen, die bei den Renovierungen die Ärmel hochkrempeln, gehört March Lebanon. Die 2011 gegründete Initiative weist jungen Menschen, darunter ehemalige Milizen und Kriegsopfer, durch Berufsausbildung einen Weg aus der Radikalisierung. Jetzt helfen diese Jugendlichen, die Wunden anderer Libanesen zu heilen, die kein Zuhause mehr haben.

Die Not schweißt
Arm und Reich
zusammen

Menschen, die ihren Nachbarn helfen, Privatleute im In- und Ausland, die Geld spenden, das sind für den Fotografen die Helden der Krise. „Die Explosion machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Es spielt keine Rolle, ob jemand ein Haus in Gemmayze im Wert von zehn Millionen Dollar besitzt oder direkt daneben eine Wohnung für 100 000 Dollar: Alle hatten dieselben Schnittwunden und Blutergüsse, all haben jetzt ähnliche Probleme. Dies Erfahrung schweißt die Menschen zusammen und macht sie demütig. Wir wissen: Wir haben keinen Staat, auf den wir uns verlassen können. Wir können uns nur selbst helfen.“

Mrad bedauert jedoch, dass der Wiederaufbau trotz der vielen Unterstützer nur langsam vorankommt: „Von außen sieht man jetzt oft die Schäden nicht mehr. Wenn man die Häuser betritt, ist es eine schockierende Erfahrung. Nur in ganz wenige Häuser sind die Mieter oder Eigentümer wieder eingezogen. Das sind einige wenige Gebäude, denen NGOs ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt haben“, sagt der Fotograf.

Dunes of Beirut. So betitelte Dia Mrad diese Aufnahme aus dem Hafen von Beirut. Die fast fünfzig Meter hohen Überreste der explodierten Silos können nur noch abgerissen werden. Durch die Explosion sind sie instabil geworden. Foto: Dia Mrad

Schnell voran geht es hingegen mit Dia Mrads Anerkennung als Fotokünstler: Im Juni eröffnete in Beirut seine erste Ausstellung. The Road to Reframe (Der Weg zur Neuordnung) hieß die Schau, für die der Architekturfotograf erstmals mit der Kamera den zerstörten Hafen aufsuchte. 30 Prozent der Einnahmen aus jedem verkauften Bild stiftet der Fotograf für den Wiederbau.

Die Ausstellung fand im schicken Boutique-Hotel Arthaus statt. Der ehemalige Hedge-Fund-Manager und Kunstsammler Nabil Nebs und seine Frau Zoe besaßen bereits Arthaus-Hotels im englischen Berkshire und im französischen Skiort Megève, als sie beschlossen, das Beiruter Anwesen seiner Vorfahren aus dem achtzehnten Jahrhundert aufwendig zu restaurieren. Er sollte genau an dem Tag als Hotel eröffnen, als die Explosion ihre Arbeit mit einem Schlag zunichte machte. Inzwischen ist das historische Gebäude einigermaßen instand gesetzt, das Hotel hat wieder geöffnet.

Im Herbst nimmt der Fotograf an einem Workshop mit libanesischen und europäischen Künstlern in der Schweiz teil. Vorher will er noch seine eigene neue Wohnung im Viertel Aschrafye beziehen. Er wollte gerade einziehen, als die Explosion  Türen und Fenster aus den Angeln hob. Zwischenzeitlich kam er bei seinen Eltern unter – wie so viele Einwohner, die plötzlich kein Dach über dem Kopf mehr hatten.

Dia Mrad: Splurge. Die Ruinen der Hafenspeicher spiegeln sich im Wasser. Foto: Dia Mrad

Ob er angesichts der Situation nicht daran dachte, den Libanon zu verlassen? „Doch. Insgesamt viermal stand ich kurz davor, abzureisen. Auch vor der Explosion wollte ich weg“, sagt er. Er war in ein Postgraduierten-Programm für Städtebau in Rotterdam aufgenommen. Als die Lehrveranstaltungen wegen Covid-19 online stattfinden sollten, verschob er seine Teilnahme um ein Jahr, nach der Explosion sagte er sie ganz ab. „Ich fühle, dass es nicht die Zeit ist, um zu gehen“, sagt er. „Es ist so viel zu tun, es gibt so viel, was ich tun kann. Auch wenn jeder um mich herum das Land verlässt. Niemand will bleiben. Es gibt keinen Grund, hierzubleiben. Ich möchte nur für mich sichergehen, dass die Architektur renoviert wird. So dass ich, falls ich wegziehe, noch etwas Vertrautes wiedererkenne, wenn ich zurückkehre.“

© Holger Christmann

Infos

Übernachten in Beirut:
Arthaus ist ein Boutique-Hotel im schicken Beiruter Viertel Gemmayze. Die Gründer sind Kunstsammler und stellen regelmäßig Kunst im Hotel aus. Übernachtungen ab 320 Dollar. Adresse: Gouraud Street, Gemmayze PO Box 175-288, Beirut, Libanon. https://arthaus.international

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