Kunst & Wein

Terroir als schöne Kunst betrachtet

Die schwedischen Künstler Nathalie Djurberg und Hans Berg gestalteten die Vendemmia d’Artista des Weinguts Ornellaia. Der Erlös kommt dem Mind’s Eye Programm des Guggenheim Museum zugute.

VON HOLGER CHRISTMANN
28. Juli 2022
Das schwedische Künstlerpaar Nathalie Djurberg & Hans Berg. Foto: Wynrich Zlomke

Das schwedische Künstlerduo Nathalie Djurberg und Hans Berg ist für seine Knetpuppen-Filme bekannt. Stop-Motion heißt die aufwändige Animationstechnik, bei der eine Serie von Standbildern die Illusion von Bewegung erzeugt. Mit überzeichneten Figuren aus Plastilin, Ton, Textil und Kunsthaar erzählen die Künstler, beide Jahrgang 1979, surreale Geschichten der menschlichen Existenz. Sie machen dabei auch vor abstoßenden Dingen wie Blut und Körperflüssigkeiten nicht halt, die seit der Geburt den Menschen begleiten. Hans Berg steuert die passende Musik zu den Videos bei. Es gibt auch ein plastisches Werk der beiden, das 2019 in der großen Ausstellung in der Frankfurter Schirn zu sehen war. Daher passt es durchaus, dass die Schweden jetzt auch eine Weinflasche plastisch gestalteten. Auftraggeber ist das Weingut Ornellaia, das seit dem Jahrgang 2006 jedes Jahr einen international bekannten Künstler oder eine Künstlerin mit der künstlerischen Gestaltung eines Jahrgangs betraut. Zu den Künstlern, die eine Vendemmia d’Artista gestalteten, gehören große Namen wie Rebecca Horn (2008), Michelangelo Pistoletto (2010), Rodney Graham (2011), William Kentridge (2015) und Tomás Saraceno (2017).

Der Ornellaia ist ein Supertoskaner aus der Region Bolgheri. Diese eleganten vollmundigen Weine von der Küste unterscheiden sich von anderen Spitzen-Rotweinen der Toskana wie dem Brunello di Montalcino dadurch, dass sie nicht hauptächlich aus der Sangiovese-Traube gewonnen werden. Der Ornellaia 2019 ist eine Cuvée aus zweiundsechzig Prozent Cabernet Sauvignon, zweiunddreißig Prozent Merlot, vier Prozent Petit Verdot und drei Prozent Cabernet Franc. Er trägt den Beinamen Il Vigore (Die Lebenskraft). Das Jahr 2019 war durch sein wechselhaftes Klima geprägt. Kälte- und Regenperioden wechselten sich mit langen Dürre- und Hitzephasen ab. Nach einem unbeständigen Frühling und einem fast perfekten Sommer führte die Absenkung der Temperaturen Ende September „zu Weinen mit großer Finesse und Aromen-Reichtum“, schwärmt Axel Heinz, Direktor des Weinguts. Er beschreibt den Jahrgang 2019 als „kraftvoll“ und „geheimnisvoll“. „Er offenbart bei der ersten Probe nicht alle Facetten“. Die Önologin Olga Fusari nimmt neben der „intensiven rubinroten Farbe“ ein Bouquet wahr, „das reich an faszinierenden würzigen und balsamischen Noten ist, darunter Aromen von schwarzem Pfeffer, Salbei und aromatischen Kräutern“. 

Echte Erde vom Ornellaia-Weinberg im toskanischen Bolgheri ließen sich die Künstler in ihr Atelier schicken. Dort kreierten sie die Flaschen für die Vendemmia d’Artista 2019, die den Beinamen Il Vigore (Die Lebenskraft) trägtFoto: Ornellaia

Nicht umsonst trug eine Ausstellung von Nathalie Djurberg und Hans Berg im Moderna Museet in Stockholm 2018 den Titel: Eine Reise durch Schlamm und Verwirrung mit kleinen Einblicken in die Luft. Schlamm spielt auch in ihrem Werk für Ornellaia die zentrale Rolle. Nathalie Djurberg und Hans Berg wollten dem Geheimnis des Terroirs auf die Spur kommen und ließen sich Erde des Ornellaia-Weinbergs in der Toskana in ihr Atelier nach Schweden bringen. Sie mischten sie mit viel Pigment und setzten künstliche Blüten und Kreaturen ein. Wer sieht, wie der Schlamm am Flaschenhals pappt, wundert sich, dass die Komposition zusammenhält und es nicht bei der leisesten Erschütterung zu einem Erdrutsch kommt. Doch Nathalie Djurberg erklärt gegenüber FEATURE, dass das Pigment „wie Klebstoff wirkt und den Schlamm zusammenhält“. Djurberg und Berg wollten „das Chaos und die Transformation im Boden“ in ihrer Plastik festhalten. Nathalie Djurberg war fasziniert „von der Hand des Menschen in der Erde, die der Erde hilft, zur Kunst zu werden“. Es sei ihnen beiden darum gegangen, verborgene Schönheit darzustellen, „Geheimnisse, an die wir selten denken“. 

Fast wie im richtigen Weinberg treibt das Terroir im Kunstwerk von Nathalie Djurberg und Hans Berg bunte Blüten, aber auch Würmer scheinen aus ihm hervorzukriechen. Foto: Ornellaia

Aus der Erde scheinen bunte florale Elemente und Würmer zu sprießen. „Sie springen aus dem Kunstwerk heraus“, sagt Djurberg zu FEATURE und fährt fort: „Der Entstehungsprozess ist die Kunst für mich. Berühren, formen und fühlen, das ist die Kunst.“ Umso wichtiger sei es gewesen, mit der echten Erde des Weinbergs zu arbeiten. Hans Berg reiste später ins Bolgheri, um das Werk fertigzustellen. Das Ergebnis sind zehn Imperial-Flaschen und eine Salmanazar-Flasche, die alle mit einem individuell gestalteten erdigen und bunten Kunstwerk gestaltet sind. Wer eine solche Flasche erwirbt, erhält dazu ein Video-Kunstwerk. 

Darüber hinaus schufen die Künstler ein Etikett für die 750-ml-Liter-Flaschen, die im Handel erhältlich sind. Es stellt einen Finger dar, der den Boden berührt. Jeder Kiste à sechs Flaschen des Jahrgangs 2019 liegt eine Flasche mit Künstleretikett bei. Das Relief der Doppelmagnum-Flasche (drei Liter) enthält kleine Erdpartikel aus den Weinbergen des Ornellaia im Bolgheri. 

Die Weinberge von Ornellaia im Morgenlicht. Foto: Ornellaia

Die in Kunstwerke verwandelten Flaschen werden vom 5. bis zum 19. Oktober bei Sotheby’s online versteigert. Wie immer bei der Vendemmia d’Artista von Ornellaia kommt der Erlös dem Mind’s Eye Program des Guggenheim Museums zu Gute, das sehbehinderten Menschen den Zugang zur Kunst ermöglicht. Der scheidende Guggenheim-Direktor Richard Armstrong gab auf der Pressekonferenz bekannt, dass nach dem New Yorker Hauptsitz des Museums auch das Guggenheim Bilbao und das Peggy-Guggenheim-Museum in Venedig an dem Programm teilnehmen werden.

© Holger Christmann