Cartier

Pierre Rainero: „Wir profitieren von der Digitalisierung“

Der Direktor für Image, Style und Heritage bei Cartier spricht in unserem Interview über die berühmten Uhrenklassiker der Marke, ihr unerschöpfliches Archiv und ihre Beliebtheit unter jungen Leuten.

VON HOLGER CHRISTMANN
5. August 2021
Hüter eines verborgenen Schatzes: Pierre Rainero, Direktor für Image, Stil und historisches Erbe bei Cartier.

Cartier gehört zu den Pionieren der Armbanduhr. Modelle wie die Tank, Panthére, Tonneau waren bahnbrechend im Uhrendesign. Das Modell Santos von 1904 gilt sogar als die erste Männerarmbanduhr überhaupt. Diese Stilikonen bleiben sich treu und werden zugleich permanent technisch und behutsam optisch aktualisiert. Hüter des Erbes von Cartier ist Pierre Rainero. Er ist Heritage- und Stildirektor des Pariser Schmuck- und Uhrenhauses. In unserem Interview verrät er, welche Philosophie Cartier bei Uhren verfolgt, warum sein Haus Zeitmesser aus den letzten Jahrzehnten zurückkauft und warum die Tank Must die erste Cartier-Uhr ist, die Energie aus Photovoltaik gewinnt.

Holger Christmann: Herr Rainero, gibt es so etwas wie eine gemeinsame DNA der Uhren von Cartier? 

Pierre Rainero: Es ist die Mission von Cartier, eine eigene Vision der Ästhetik in die Objekte zu bringen, die uns umgeben. Ihr Anblick soll Vergnügen bereiten. Dass Ästhetik diese wichtige Raison d’Être Cartiers ist, erklärt auch unsere starke Betonung der Form. Das unterscheidet uns von vielen anderen Uhrenmarken. Wir machen, wie Sie wissen, nicht nur runde Uhren, wie es in der Uhrmacherei üblich ist. Der zweite Ausgangspunkt für unsere Uhren ist die Überlegung, wie unsere Kunden leben. Andernfalls könnten wir uns nicht erklären, warum Cartier die erste Armbanduhr designt hat. Wir waren nicht die ersten, die die Idee hatten, Uhren am Handgelenk zu tragen. Aber wir haben als Erste Uhrenmodelle gestaltet, die speziell für diese Funktion gedacht waren. Die Santos Dumont war die erste Uhr, die eigens für diese damals neue Trageform konzipiert wurde.

Die Santos, ein Geschenk Louis Cartiers an den brasilianischen Flugpionier Alberto Santos Dumont, war 1904 die erste Herrenarmbanduhr überhaupt. Das Modell Santos-Dumont aus der Kollektion 2021 kommt dem Original sehr nahe. Es kommt in einer Kombination aus Edelstahl und Roségold (links) sowie in Platin auf den Markt. Beide Versionen sind auf 500 Stück limitiert.

Steht Cartier nicht sehr für klassische Eleganz im Unterschied zu den sportlichen Uhrendesigns anderer Marken? 

Pierre Rainero: Klassisch ist Cartier im Sinne von Beständigkeit eines Designs. Klassisch kann zwei Bedeutungen haben: In der angelsächsischen Welt wird der Begriff für Kreationen verwendet, die ewig halten. In Frankreich kann klassisch auch altmodisch meinen. Klassisch bei Cartier heißt langlebiges Design. Eleganz heißt für uns Komfort für den Träger. Wir sind ein Schmuckhersteller, wir sind besessen von diesem Thema. Alles sollte mit Mühelosigkeit getragen werden und mit Vergnügen, es sollte nicht zu großen Umfang haben, der die Bewegung einschränkt. 

„Es gibt ein
karikaturhaftes Bild
von Männlichkeit“

Es gibt dieses Gedankenspiel: Wer trägt welche Uhr? Jemand, der gern feinen Zwirn trägt und ein Gentleman oder Dandy sein möchte, kauft sich vielleicht eine Cartier. Jemand, der lieber Sportlichkeit ausstrahlt, sieht sich mit einer Sportuhr am Handgelenk. Unterscheiden Sie zwischen Käufertypen?

Pierre Rainero: Das ist jetzt keine übliche Marketingantwort, aber ich glaube nicht, dass es einen typischen Träger gibt. Ich glaube auch nicht, dass Menschen nur eine Facette haben. Es gibt eine Wertegemeinschaft von Leuten, die sich entscheiden, Cartier zu tragen. Sie tragen Cartier nicht in allen Lebenslagen, aber aus denselben Gründen. Weil Cartier anders ist. Leute, die unsere Werte schätzen, sind Freigeister, sie gehören nicht zum Mainstream. Man muss frei im Kopf sein, um heute Cartier zu tragen. Der Wert von Eleganz ist in der maskulinen Welt schwer zu vermitteln. Es existiert ein fast schon karikaturhaftes Bild von Männlichkeit.

Für Frauen ist das kein Thema. Frauen erfreuen sich einer großen Wahlfreiheit, und es ist kein Geheimnis, dass Cartier unter Frauen sehr beliebt ist. Cartier steht für Neugier. Das ist etwas, was Frauen mögen. Die Marke steht für das Verlangen, verschiedene Richtungen zu sondieren. Männer gehören zu einer ganz anderen Welt, in der es Beschränkungen für ihr Verhalten gibt. Es gibt viele Tabus für Männer rund um die Welt. Männer, die sich für Cartier entscheiden, sind wirklich Freigeister, sie mögen Kreativität, Eleganz und die Idee, anders zu sein.

Seit kurzem bietet Cartier eine echte Vintage-Collection an: Uhren aus den Jahren 1970 bis 2010, die restauriert wurden. Von links: eine Tonneau Zweite Zeitzone aus dem Jahr 2005, eine Pasha (2009) und eine Tortue acht Tage (2005). Die Modelle zeigen, wie wichtig für Cartier das Spiel mit geometrischen Formen ist.

Für mich steht Cartier auch für Kultiviertheit. 

Pierre Rainero: Ich bin da nicht ganz sicher. Wenn wir etwas kreieren, geben wir keine Erklärungen. Was wir glauben, ist, dass unsere Kreationen auf den ersten Blick begehrenswert sind. Selbst wenn Leute nicht unsere Rolle in der Geschichte der Uhren kennen, sollten unsere Objekte für sich genommen in der Gegenwart begehrenswert sein. Wenn wir Erklärungen oder Rechtfertigungen liefern müssen, machen wir etwas falsch, versagen auf gewisse Weise. Die Begehrlichkeit unserer Objekte sollte spontan sein.

Cartier schuf als erste große Luxusmarke die Position eines Heritage-Directors. Ein paar Jahre später begannen viele andere Luxusmarken, über die Bedeutung ihrer Erbes, ihrer Markengeschichte zu sprechen. Sehen Sie sich selbst als Pionier des Heritage- und vielleicht auch des Vintage-Trends? 

Das ist schwer zu sagen. Was ich sagen kann, ist: Schon bevor ich das Heritage-Department vor fast zwanzig Jahren gründete, existierte bei Cartier eine solche Abteilung unter anderem Namen. Wir hatten ein Archiv, wir hatten eine Abteilung, die der Kollektion gewidmet war. Mein Input bestand darin, all diese Aufgaben zusammenzuführen und neue zu organisieren wie die Dokumentationsabteilung. Das Interesse bei Cartier an diesem Vermächtnis, der Wunsch, die Kräfte zu bündeln, um die jüngeren Mitarbeiter von Cartier mit dem historischen Erbe von Cartier vertraut zu machen, existierte seit Anfang der 1970er Jahre. Bis zum Ende der 1960er Jahre war die Erinnerung noch lebendig. Es gab noch Leute bei Cartier, die mit Louis Cartier und Jeanne Toussaint zusammengearbeitet haben. Als uns Jeanne Toussaint 1970 verließ und neue Generationen in die Maison eintraten, entstand das Bedürfnis nach einer Heritage-Abteilung, wie wir sie heute kennen. 

Uhr in Glockenform: Die Cloche de Cartier, ein Design von 1920, lässt sich ablesen, wenn man den Arm einfach nur baumeln lässt. Limitierte Versionen des Klassikers werden in der Collection Privé von Cartier 2021 neu aufgelegt. Die Kollektion richtet sich vor allem an Sammler.

Wie hat man sich diese Abteilung vorzustellen? Ist sie so umfangreich, dass Sie immer noch Entdeckungen machen?

Es gibt niemanden bei Cartier, der vorgeben könnte, die gesamte Produktion von Cartier zu kennen. Das ist aus verschiedenen Gründen unmöglich: weil Cartier seit Anfang des 20. Jahrhundert erfolgreich war, weil Standorte in London und New York eröffnet wurden und weil verschiedene Ateliers eröffnet wurden. Die Produktion von Cartier war auf diesem Niveau von Qualität und Prestige quantitativ die größte der Welt. Sie sucht ihresgleichen. 

Das heißt, Sie machen immer wieder Entdeckungen? 

Pierre Rainero: … und Überraschungen. Manchmal tauchen ungewöhnliche Stücke auf dem Markt auf. Die gleichen wir dann mit unserem Archiv ab. Wir finden dann oft die Zeichnungen, die Fotografien und sagen: Ja, das ist es!

Alles, was Cartier produzierte, wurde dokumentiert und archiviert? 

Pierre Rainero: Ja. Systematisch mindestens seit dem Einzug in der Rue de la Paix 1899. Wir hatten immer ein Fotostudio und besitzen unglaubliche Schätze der Fotografie, über alle Techniken des Mediums hinweg. Das ist ein Forschungsgebiet für sich. Für einen großen Teil der Kreationen haben wir die Vorzeichnungen aufbewahrt, die den Prozess der Kreation dokumentieren. Deshalb sind so viele Kulturinstitutionen und Museen daran interessiert, Cartier zu erforschen. 

Könnten Sie eine konkrete Entdeckung aus jüngster Zeit nennen?

Pierre Rainero: Seit ein paar Jahren erforschen wir verstärkt die Korrespondenzen. Wir wollen verstehen, welche Philosophie hinter einem Design stand. Entsprang es einer Laune, war es etwas tief Durchdachtes, etwa weil man das Verhalten der Kunden analysiert hatte? Mein Team ging die Briefe von Louis Cartier und seinen Kollegen und von Jeanne Toussaint durch, und mir fiel etwas Bemerkenswertes auf. Louis Cartier spricht im Namen eines Unternehmens, was bedeutet: Das Unternehmen ist nicht er. Das Unternehmen ist etwas, das die Familie kreierte, etwas, das vor ihm existierte und das nach ihm weiter bestehen wird. Und alles, was er unternahm, diente dem, was nach ihm kommen würde. Er sah sich als Mitwirkender. Es zeigt, dass selbst Louis Cartier, der den größten Einfluss auf den Stil von Cartier in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts hatte, sich als Contributor von etwas sah, was größer als er selbst war. Größer auch als die Familie. Das war für mich eine wichtige Entdeckung. 

Ist das umfangreiche Archiv auch die wichtigste Inspirationsquelle für neue Kreationen?

Pierre Rainero: Nicht unbedingt. Ich verstehe, warum Sie das fragen. Wegen etwas sehr Wichtigem, das ich den Cartier-Stil nennen würde. Wenn man ihn als eine kreative Sprache, eine lebende Sprache ansieht, dann sieht man Gemeinsamkeiten in den Schöpfungen von früher und heute. Das ist die Essenz eines Stils. Selbst in ganz neuen Designs erkennt man etwas, das sie zu Angehörigen einer Familie macht. Es ist aber nicht notwendigerweise alles, was wir tun, verbunden mit der Vergangenheit. Es gibt ja in unserer Kollektion auch das sehr erfolgreiche runde Modell Ballon Bleu aus der jüngeren Vergangenheit, das kein Vorbild in unserer Geschichte hat. Der gemeinsame Stil bedeutet nicht, dass wir immer erst zurückblicken, bevor wir etwas Neues kreieren.

Die runde Ballon Bleu wurde nach ihrer Einführung 2007 schnell ein Welterfolg. Das Unisex-Modell mit dem charakterischen Saphir-Cabochon in der Aufzugskrone, die vom Gehäuse schützend umschlossen wird, gehört zu den Lieblingsuhren von Stars und Royals. Die bekannteste Trägerin ist Catherine, Herzogin von Cambridge. 2021 wird die Ballon Bleu mit einem neuen hauseigenen Automatikkaliber ausgerüstet, dem 1847 MC.

Neuerdings bietet Cartier Originaluhren aus der Zeit von den 1970ern bis 2010 an. Wie entdecken Sie diese Uhren? 

Pierre Rainero: Kunden kommen auf uns zu, um ihre Objekte zu verkaufen. Händler bieten Kunden an, sie zu kaufen. Besonders in historisch bedeutenden Märkten von Cartier wie Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten finden wir diese Uhren. Wir authentifizieren diese Stücke, und wo nötig, restaurieren wir sie. Ein Team untersucht diese Zeitmesser, um zu sehen, ob das Uhrwerk das ursprüngliche ist und ob die Nummern stimmen. Dann entscheiden wir, ob wir die Uhr ankaufen. Wir haben unsere eigenen Regeln, welche Preise wir zahlen …

Haben Sie die historischen Ersatzteile, um Uhren originalgetreu zu restaurieren? 

Pierre Rainero: Das hängt von den Uhrwerken ab. Aber ich muss sagen, bei den Uhren aus den 1970ern sind die Uhrwerke normalerweise in sehr gutem Zustand.

Warum sind die 1970er Jahre besonders interessant? 

Pierre Rainero: In diesem Jahrzehnt hatten wir eine spannende Situation. Wir produzierten bestehende Formen und völlig neue Designs. 1972 brachte Cartier eine Linie von Golduhren am Lederarmband heraus, die Kollektion Louis Cartier. Diese Stücke von 1972/73 sind gerade sehr nachgefragt. Dann gab es eine Must-Kollektion in Gold-Vermeil, das heißt in Sterling-Silber und bedeckt mit Gold. Es gab diese Uhren mit vielen verschiedenen Zifferblättern. Sie sind für Sammler hochinteressant.

In welchen Stückzahlen wurden diese Modelle hergestellt? 

Pierre Rainero: Es gibt nicht wenige davon. Denken wir daran, dass Anfang der 1970er Jahre der Vertrieb über die Fachhändler begann. Dafür wurde die Produktion erhöht. Bis zum Ende der 1960er Jahre waren Cartier-Uhren nur in unseren eigenen Geschäften erhältlich.

Eine spezielle Linie von Cartier ist die Kollektion Cartier Privé. Diese Reihe limitierter Uhren für Sammler umfasst Raritäten wie die langgezogene Tank Cintrée und die Tank Asymétrique. 2021 ist die Cloche de Cartier an der Reihe, eine Uhr in Glockenform. Wie kam es zu diesem Design? 

Pierre Rainero: Um etwas über die Namensgebung von Cartier-Uhren zu sagen: Die Namen, die Cartier Uhren gibt, sagen nicht immer etwas aus über deren konkrete Inspiration. Es war in der Logik von Louis Cartier und seinen Designern, mit essenziellen geometrischen Formen zu spielen. Die Cloche ist eine Kombination aus einem Halbrund und einem halben Rechteck. Den Namen Cloche erhielt das Objekt, nachdem es kreiert worden war. In ähnlicher Weise wurde die Tank nachträglich Tank genannt. Für jeden war es offensichtlich, dass ihr Design an einen Panzer erinnerte. Es war dasselbe mit der Tonneau, deren Form einem Fass ähnelt, und mit der Tortue, die wie eine Schildröte aussieht. Indem wir solche anschaulichen Namen finden, weiß jeder, worüber wir sprechen.

Wir dachten, Louis Cartier habe seine Gedanken zu jedem Modell aufgeschrieben.

Pierre Rainero: Er schrieb nicht speziell über Uhren, sondern über seine Ideen für Kreationen. Aus seinen Aufzeichnungen wissen wir ein paar Tatsachen. Zum Beispiel, dass Cartier ohne die Entscheidung von Louis Cartier keine Armbanduhren produziert hätte. Weil Alberto Santos Dumont ein persönlicher Freund von Louis Cartier war, war dieser 1904 total involviert in das Design eines Geschenk von Cartier an Santos Dumont. Die Tank, die in unseren Archiven seinen Namen trägt, die Tank Louis Cartier also, sagt eine Menge darüber aus, wie viel Beachtung er diesem Modell widmete. Er war nicht selbst Designer, er designte nie etwas selbst. Das überließ er einem Studio von Kreateuren. Aber er zeichnete Entwürfe auf Papier, um zu erklären, was er wollte. Auch Jeanne Toussaint ging so vor.

Unter seiner Ägide entstanden Jahrhundertuhren wie die Santos und die Tank: Louis Cartier (1875–1942).

War es intendiert, dass man die Cloche de Cartier auf den Tisch stellen konnte? 

Pierre Rainero: Nein. Das ist eine Konsequenz aus dem Design.

In der aktuellen Kollektion findet sich auch die Santos-Dumont. Was ist der Unterschied zwischen der Santos und der Santos-Dumont. Ist Letztere näher an der ersten Version? 

Pierre Rainero: Sie ist näher an dem ursprünglichen Modell. Es ist interessant zu sehen, dass die Uhr, designt 1904 und wiederholt im Jahr 1908, als es eine zweite Santos-Dumont gab, die Albert Santos Dumont ebenfalls geschenkt wurde, wahrscheinlich weil er die erste verloren hatte, erst 1911 kommerzialisiert wurde. Und man kann sehen, dass man danach, 1912, 1913, 1914, schon Variationen findet. Es ist daher sehr schwer zu sagen, nur eine Santos sei die Santos-Dumont. Aber Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass die Santos-Dumont, die jetzt in unserer Kollektion ist, der ursprünglichen am nächsten kommt.

Die Santos ging also erst 1911 in Serienproduktion? 

Pierre Rainero: Ja. Obwohl der Ausdruck Serienproduktion hier übertrieben wäre. 1911 gab es Cartier nur in Paris, London und New York. Ich nenne Ihnen eine Zahl als Beispiel: Als die Tank im Dezember 1919 in unserem Geschäft in der Rue de la Paix präsentiert wurde, gab es davon sechs Stück. 

Die Cloche de Cartier wird von einem In-House-Kaliber angetrieben. Hat Cartier eine neue Klientel erreicht, seitdem die Manufaktur verstärkt eigene Uhrwerke produziert? 

Pierre Rainero: Das ist nicht wirklich etwas, worüber wir viel sprechen. Wir sind transparent, was unsere Uhrwerke angeht, und es ist das Interessengebiet einer neuen Klientel. Für uns ist Manufakturware eine Garantie für die Performance unserer Uhrwerke und für unsere Versorgungssicherheit, aber eigene Uhrwerke sind nicht notwendigerweise ein Verkaufsargument. 

Viele Uhrenfans legen auf Manufakturware Wert.

Pierre Rainero: Für einen Teil unserer Klientel mag es beruhigend sein, dass ein hochqualitatives Uhrwerk aus eigener Produktion in einer Uhr steckt. Diese Käufergruppe interessiert sich dafür, wie eine Uhr gemacht ist. Es ist aber auch lohnenswert, mit externen Ateliers und Manufakturen zusammenzuarbeiten, dass also die Uhrenherstellung in einem Umfeld fachlicher Kompetenz stattfindet. Die Balance zwischen Vertikalisierung und einem Netz externer Spezialisten muss gesund bleiben.

Welche sind die Bestseller in der Uhrenkollektion von Cartier? 

Pierre Rainero: Die Tank, aber auch die Ballon Bleu, also eines der ältesten Designs von Cartier und eines der neuesten.

Tank Louis Cartier in Roségold mit Saphir-Cabochon. 1922 überarbeitete Louis Cartier die Tank von 1917, verlängerte ihr Gehäuse, gestaltete die Seitenstege schmaler und die Kanten weicher. Beim abgebildeten Modell aus der aktuellen Kollektion sind römische Ziffern und Schienendekor vergoldet.

Eine viel beachtete Innovation dieses Jahr ist die Tank Must SolarBeat, die Quarztechnik mit Photovoltaik verbindet. Eignet sich die Tank Must besonders für diese Art von Technologie? 

Pierre Rainero: Das dachten wir, und zwar aus zwei Gründen. Das Tank-Design ist emblematisch im Werk von Cartier. Es war uns wichtig, zu zeigen, dass ikonisches Design kompatibel ist mit einer solchen Innovation. Wir haben eine der erschwinglicheren Uhren von Cartier gewählt, weil wir gerade diese Technologie nicht nur einer Minderheit anbieten möchten. Die Idee ist im Gegenteil, sie der größtmöglichen Zahl von Kunden zugänglich zu machen. Daher haben wir uns für die Tank Must entschieden.

Viele Uhrenhersteller haben in der Pandemie gelitten. Was haben Sie persönlich aus der Krise gelernt?

Pierre Rainero: Was wir unmittelbar gelernt haben, war, wie unterschiedlich sich die Pandemie in verschiedenen Teilen der Welt auswirkte. Nicht alle Länder waren im selben Maße betroffen. Wir mussten mit verschiedenen ökonomischen und gesundheitlichen Situationen zurechtkommen. Zugleich leben wir in einer Blütezeit der Klassiker. Ein Begriff wie Langlebigkeit ist sehr wichtig. Wenn man eine Krise erlebt, erkennt man den Wert langlebiger Dinge. Deshalb wächst das Interesse an Cartier, besonders bei jungen Leuten.

1977 lancierte Cartier die Tank Must als erschwingliche Version der Designikone Tank. In den 1980ern gab es die Uhr auch in Rot, Blau und Grün. 2021 überrascht die Tank Must SolarBeat mit einem Photovoltaik-Zifferblatt. Die Sonnenenergie gelangt dabei durch winzige Öffnungen im Zifferblatt zu den Photovoltaikzellen des Uhrwerks.

Die Kunden von Cartier sind besonders jung? 

Pierre Rainero: Wenn wir das Profil unserer Kunden sehen, fällt auf: Das Profil ist sehr jung. Wir profitieren von der Digitalisierung. Vor ein paar Jahren fragten sich viele, wie die Luxusbranche und Cartier der digitalen Welt begegnen könnten. Ich sah die digitale Welt immer als eine unglaubliche Chance für uns. Denn wenn Sie darüber nachdenken: Einer der großen Vorteile des Internets ist die einfache Suche nach Information. Die Leute haben heute leichten Zugang zu Wissen und werden in einem Ausmaß, das es vorher nicht gab, ermutigt, nach Wissen zu suchen. Früher musste man Bücher kaufen, um bestimmte Dinge zu erfahren. Heute müssen die Leute nur einen Begriff in die Suchmaschine eingeben. Man klickt auf das Wörtchen Tank und erhält Informationen zur gesamten Geschichte des Modells und seiner Evolution. Dieser Zugang zu unserem Vermächtnis, den die junge Generation durch das Netz erhält, kommt dem entgegen, worum es bei Cartier geht. Es bleibt dann die Frage, in welchem Alter junge Leute die Mittel haben, um sich eine Cartier-Uhr zu kaufen. Es ist wahr, dass das in China früher der Fall ist als im Rest der Welt. 

Wir bedanken uns für das Gespräch.

© Holger Christmann

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