Kunst

Eine Börse für die
Kunst in Paris

Vor vielen Jahren verlegte der Milliardär und Kunstsammler François Pinault aus enttäuschter Liebe zu Paris seine Kunstsammlung nach Venedig. Jetzt erfüllt sich für ihn der Traum eines eigenen Museums in Frankreichs Hauptstadt. Mit dem Standort, der Bourse de Commerce, erweckt der Magnat zugleich eine schlummernde Architekturikone zum Leben.

VON HOLGER CHRISTMANN
5. August 2021
Ziemlich beste Freunde: François Pinault (l.), Architekt Tadao Ando.  Foto: Fred Marigaux

Victor Hugo verglich die Kuppel der neuen Getreidehalle in seinem Roman Notre-Dame de Paris (dt.: Der Glöckner von Notre-Dame) mit der Mütze eines englischen Jockeys im Großformat. 1989 wurde der Rundbau vom Architekten Henri Blondel zur Warenbörse umgebaut. Jetzt wird die Architekturikone im Pariser Hallenviertel ein Tempel der Kunst. Ab sofort ist hier dauerhaft die Kunst der Sammlung Pinault zu sehen. Francois Pinault, Gründer des Luxuskonzerns PPR (heute Kering), zu dem Marken wie Gucci, Balenciaga und Alexander McQueen gehören (außerdem besitzt Pinault das Londoner Auktionshaus Christie’s) ließ den denkmalgeschützten Rundbau von seinem Leibarchitekten Tadao Ando zum Museum umbauen und mietet ihn für fünfzig Jahre an.

In der Rotunde ist viel Platz für Urs Fischers Installation Untitled (2011). Der Raub der Sabinerinnen ist ebenso aus Wachs wie die Figur des Rudi (gemeint ist der Künstler Rudolf Stingel). In den nächsten Monaten wird das Werk seine Form verändern. Foto: Stefan Altenburger

Lange ist’s her, da hatte der Milliardär schon einmal in Paris ein Museum einrichten wollen. Im Jahr 2000 war das. Als Standort hatte er die ehemalige Renault-Fabrik auf der Île Seguin ins Auge gefasst. Louis Renault hatte das Werk zwischen 1929 und 1931 im Vorort Boulogne-Billancourt bauen lassen, um dort Autos nach den neuen Produktionsmethoden Henry Fords zu konstruieren. Auf 33 000 Quadratmeter sollte sich Pinaults Kunstsammlung auf der Seine-Insel erstrecken. Als Architekt hatte Pinault den Japaner Tadao Ando ausgewählt. 2005 zog Pinault, frustriert über die fehlende Unterstützung der kommunalen Behörden, sein Angebot zurück und verlegte das Projekt nach Venedig. Die Lagunenstadt hatte seit 2003 nach einem neuen Partner für den Palazzo Grassi Ausschau gehalten. 17 Jahre lang hatte der italienische Autobauer Fiat das Haus betrieben und dort Kunstausstellungen organisiert. Nach dem Tod des Fiat-Chefs Gianni Agnelli gab Fiat bekanntgegeben, sich aus dem Engagement zurückzuziehen. Pinault zahlte schließlich 29 Millionen Euro für einen achtzigprozentigen Anteil am Palazzo Grassi. Zum ersten Direktor ernannte er den ehemaligen französischen Kulturminister Jean-Jacques Aillagon.

Warum machte es Paris einem seiner prominentesten Bürger so schwer? Lag es daran, dass Privatsammler in Frankreich traditionell im Schatten des Staates standen? Oder passte der Selfmade-Man Pinault nicht in das Bild, das die französische Elite der Enarchen und Polytéchniciens von einem der ihren hat? Der Bretone hat keine dieser Schulen durchlaufen, vielmehr war er mit Holzhandel zu Reichtum gekommen und hatte sich später mit der Erwerb der Kaufhauskette Printemps in die Elite-Zirkel des Landes vorgearbeitet. In einem Beitrag für die Zeitung „Le Monde“ benannte Pinault seine Gründe für die damalige Absage. Es ging um das Terrain rund um das neue Museum, für das die Stadt einen Entwicklungsplan vorlegen sollte. Den sei sie auch nach fünf Jahren schuldig geblieben. „Wie kann von mir erwartet werden, dass ich das Talent eines großen Architekten verschwende und 150 Millionen Euro ausgebe auf einem Gelände, das für mehr als ein Jahrzehnt durch eine Baustelle entstellt ist?“, fragte Pinault. Ein Geschäftsmann habe nur seine Lebenszeit, um einen Traum zu verwirklichen. „Ein Stadtrat trifft seine Entscheidungen auf der Basis endloser Treffen von Kommissionen, die sich über Jahre hinziehen.“ In einem der seltenen Interviews, die mir François Pinault durch Vermittlung eines gemeinsamen Freundes, des Genfer Kunstsammlers Jean-Paul Barbier-Mueller, gab, sagte er: „Die Pläne waren fertig, der Architekt Tadao Ando stand bereit, die Firmen auch. Nun sollte sich der Staat mit engagieren. Doch es ging nicht vorwärts. Irgendwann verging mir die Lust.“ In unserem Gespräch gestand er aber auch: „Paris ist die Stadt, die ich liebe.“

Die restaurierte Bourse de Commerce im Innern: In dreißig Metern Höhe stellen Malereien den Handel zwischen den Kontinenten dar. Über 1400 Quadratmeter erstreckt sich das Panorama. Es wurde 1889 im Zuge der Neugestaltung durch Henri Blondel enthüllt. Gut zu erkennen: Für den Ausstellungsrundgang setzte Tadao Ando einen Zylinder aus Beton in die Rotunde. Foto: Marc Domage

In Venedig begrüßte man ihn mit Kusshand. 2007 bot ihm die Serenissima zudem das alte Zollhaus, die Punta della Dogana, spektakulär an der Kreuzung von Giudecca und Canale Grande gelegen, zum Kauf an. Pinault schlug zu und beauftragte wieder Tadao Ando, dem ein Meisterstück gelang: Der Japaner entkernte den Bau, wo nötig, schuf eine Abfolge aus hohen, luftigen und intimeren kleinen Sälen, die Kuratoren eine abwechslungsreiche Spielfläche für Formate jeder Größe bieten. Ausblicke aufs Wasser sorgen dafür, dass der Besucher auch hier den Zauber der Lagune hautnah spürt.

Man konnte es als subtile Rache am Land seiner Geburt ansehen, dass der Bretone mit den strahlend grünen Augen an der Punta della Dogana die venezianische und die bretonische Flagge hisste, nicht aber die französische. In unserem Gespräch damals wiegelte er ab: „Ich dachte, es wäre besser, nicht die französische Flagge aufzuhängen. Wie Sie wissen, gab es vor 200 Jahren einen französischen Besucher, der hier nicht die besten Erinnerungen hinterließ.“ Er meinte damit Napoleon Bonaparte, der die Serenissima 1997 besetzte. Der Korse sorgte für die Abdankung des Dogen und ließ viel venezianische Kunst aus Klöstern und Palästen nach Frankreich abtransportieren. Aus Adelspalästen ließ er sogar Fresken von Decken abmontieren und nach Paris verfrachten. Pinault distanzierte sich in unserem Gespräch von dieser Vergangenheit: „Ich fühle mich zuerst als Bretone und als Europäer, dann als Franzose.“

Die Abfuhr des zweitreichsten Bürgers Frankreichs ließ Frankreichs Kulturpolitiker nicht kalt. Jahrhundertelang galt in Frankreich das Primat des Staates in der Kunst. Museen von Privatsammlern sind eine Seltenheit. Doch dann weichte Jacques Chirac den staatlichen Anspruch auf und füllte das Musée du quai Branly großteils mit Hilfe privater Sammler. Nachdem Bernard Arnault, Gründer der LVMH-Gruppe, auf Frankreichs Reichstenliste auf Platz ein noch vor seinem ewigen Konkurrenten Pinault, im Bois de Boulogne mit der Fondation Louis Vuitton seinen privaten Museumstraum verwirklichen durfte, ließ der Staat auch gegenüber Pinault Gnade walten. 2015 bot die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, dem Milliardär an, die Bourse de Commerce dauerhaft anzumieten. Pinault zeigte sich nicht nachtragend und nahm das Angebot an.

Die Allegorie Russlands und des Nordens mit dem Polarbär zu ihren Füßen wacht über den Handel am Nordmeer. Die Malereien und die Glaskuppel der Bourse de Commerce waren neben dem neuen Eiffelturm die zweite große Attraktion der Weltausstellung 1889. Foto: Patrick Tourneboeuf

Der Stadtrat von Paris stimmte einem Mietvertrag über fünfzig Jahre zu, für den der Sammler dem Vernehmen nach fünfzehn Millionen Euro zahlte. Fünfzig Millionen Euro steckte Pinault über seine Holding Artémis in die Restaurierung des Gebäudes. Er trägt außerdem die laufenden Betriebskosten. Insgesamt ist von hundertfünfzig Millionen Euro die Rede, die der 84-Jährige in das Museum investiert. Personell vertraut Pinault auf ein eingespieltes Team, das sich schon aus Venedig kennt. Zu dem gehören nicht nur der Architekt, sondern auch Martin Bethenod als Geschäftsführender Direktor der Bourse de Commerce und der ehemalige Kulturminister und Palazzo-Grassi-Chef Jean-Jacques Aillagon als Generaldirektor der Pinault-Collection.

Die Bourse de Commerce verdankt ihr heutiges Erscheinungsbild dem Architekten Henri Blondel. Er gliederte die Fassade der einstigen Getreidemarkthalle neu, überwölbte die Rotunde mit einer schmiedeeisernen Glaskuppel und beauftragte Maler mit der Gestaltung der Kuppel. Das Ergebnis war ein 360-Grad-Panorama, das den Handel zwischen den Kontinenten feiert. Im Zuge ihrer Restaurierungsarbeiten erfuhren die Experten, wer diese Maler waren. Aus Anlass der Weltausstellung wurde die Bourse de Commerce 1889 eröffnet. Sie soll der zweite Publikumsmagnet neben dem neuen Eiffelturm gewesen sein.

Mehrere Künstler wurden eingeladen, Werke in situ zu schaffen, die mit dem Bauwerk spielen. Das ist ein Fall für Maurizio Cattelan, der seine Tauben (Others, 2018) auf der Balustrade installierte. Foto: Marc Domage

Was noch fehlte, war die Kunst. Rund 10 000 Werke von 380 Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts besitzt Pinault, darunter Arbeiten von Willem de Kooning, Piet Mondrian, Mark Rothko, Cy Twombly, Damien Hirst, Takashi Murakami, Jeff Koons, Cindy Sherman und Maurizio Cattelan. Doch Pinault setzt nicht nur auf Bluechips der Kunst. Immer wieder bewies er ein Gespür für aufregende neue Positionen. Zuletzt kaufte er Werke des vietnamesisch-dänischen Konzeptkünstlers Danh Vo und der in Los Angeles lebenden französischen Malerin Claire Tabouret. Der Milliardär trug auch zur Neuentdeckung des französischen Malers Martial Raysse bei.

Die Eröffnungsausstellung trägt den Namen Ouverture und wird bis Ende Dezember 2021 zu sehen sein. Pinault hat sie selbst kuratiert. Er wolle damit zeigen, was für ein Mensch er sei, sagt der Sammler. Dazu genügte eine zusammenhängende Ausstellung nicht. Die Ouvertüre besteht aus dreizehn parallel laufendenden Ausstellungen.

Die erste gilt noch vor dem Eingang dem französischen Künstler Philippe Parreno. Er bespielt die Colonne Médicis, eine Säule, die in den Rundbau der Bourse de Commerce integriert ist. Die Königinmutter Katharina de‘ Medici ließ sie 1574 zum Zweck der Sternenbeobachtung errichten. Parreno installierte auf die Beobachtungsplattform über dem Kapitell seine farbig wechselnde Lichtinstallation Mont Analogue. Sie spielt auf den Berg Analog an, eine Art Berg der Erkenntnis, den der Schriftsteller René Daumal in seinem gleichnamigen, unvollendeten Roman behandelte. Darin macht sich eine Entdeckertruppe auf, den geheimnisvollen Gipfel zu suchen. Auf dem Weg dorthin stellen sich die Bergsteiger allerlei philosophische Fragen. Zu denen lädt auch die Ausstellung ein.

David Hammons Basketballkorb mit Kronleuchtern (Untitled, 2000) spielt darauf an, dass viele Basketballspieler davon träumen, über den Sport gesellschaftlich aufzusteigen. Foto: Aurélien Mole

Unter der Rotunde empfängt den Besucher die zweite Teil-Ausstellung. Hier bekommt eine nicht ganz unbekannte Wachskerzen-Installation Urs Fischers viel Raum. Untitled (2011-2021) besteht aus einer überlebensgroßen Wachs-Replik von Giambolognas Skulptur Raub der Sabinerinnen aus Florenz, die von einem wächsernen Abbild des Künstlers Rudolf Stingel betrachtet wird (der mit einer eigenen Schau in der Bourse de Commerce vertreten ist). Daneben steht ein Bürostühl. Fischer schuf sie erstmals für die Biennale in Venedig 2011. Da die mit Dochten versehene Wachsplastik im Laufe der Ausstellung abbrennt und immer weiter deformiert wird, lässt der in New York lebende Schweizer die Installation für jeden Anlass neu gießen. Dabei variiert er die Komposition je nach Raum. Anstatt eines Bürostuhls ließ Urs Fischer für die Bourse de Commerce mehrere Stühle aus verschiedenen Epochen und Kulturen aufstellen und schöpfte dabei aus dem Fundus Pariser Museen.

Eine eigene Schau erhält auch der Franzose Bertrand Lavier, der Alltagsgegenstände museal verfremdet, um ihnen einen neue Bedeutung zu geben oder sie ironisch zu hinterfragen. Er bespielt mit seinen Objekten – darunter ein bemalter, zur Kunst erklärter Feuerlöscher und ein zerknautschtes Moped – vierundzwanzig Vitrinen, die für die Weltausstellung 1889 installiert wurden.

Ein eigener Raum ist dem Gemälde Ici plage, comme ici-bas von Martial Raysse gewidmet. Auf einer Etage wird die Picture Generation gewürdigt, die seit den 1970er-Jahren Themen wie Aneignung und Identität in die Fotografie brachte. Zu den gezeigten Fotografen gehören Cindy Sherman, Louise Lawler, Richard Prince and Sherrie Levine. Vorgestellt wird auch der Fotokünstler Michel Journiac, der sich 1974 als Frau verkleidete und in einer Serie fotografisch 24 Stunden einer gewöhnlichen Frau nachstellte.

Mehrere Künstler wurden gebeten, Werke zu kreieren, die ironisch mit dem Raum spielen. David Gander lässt eine weiße Maus aus einer Wand schauen, als hätte sie sie selbst durchbrochen, Maurizio Cattelan platziert lebensecht wirkende Tauben auf der Balustrade.

Mit ihren Mini-Schauen geben Pinaults Kuratoren Einblicke in maßgebliche Strömungen der letzten Jahrzehnte: Martin Kippenberger, Thomas Schütte und Florian Krewer sollen Entwicklungen der deutschen Szene veranschaulichen, Luc Tuymans, Miriam Cahn und der Brasilianer Antonio Opa stehen jeweils für sich, viel Platz wird der zeitgenössischen Porträtmalerei eingeräumt.

Bertrand Lavier ist der Meister des objet soclé, des auf den Sockel gehobenen Alltagsobjekts. Das Werk trägt den Titel „MBK oder 103 Peugeot, 2020“ und zeigt ein Mofa des Herstellers Mobylette mit Unfallschaden. Foto: Aurélien Mole

Von François Pinaults Sympathie für Rebellen zeugt die Ausstellung, die David Hammons gewidmet ist. Werke des 77-jährige Amerikaners sind nur selten in Europa zu sehen. Der Künstler meidet den Kunstbetrieb, was ihn für den Markt umso anziehender macht und nicht verhinderte, dass er von der elitären Galerie Hauser & Wirth vertreten wird. Seine Inspiration findet Hammons auf der Straße und in einfachen, oft billigen Gegenständen. Dieser Hang zum billigen Alltagsmaterialien sorgte dafür, dass er mit der Arte Povera in Verbindung gebracht wurde. Die Werke des Afroamerikaners, neunundzwanzig stellt Pinault aus, sind stark mit gesellschaftspolitischer Symbolik aufgeladen. Eines heißt Minimum Security (2007) und besteht aus einer Art Käfig. Inspiriert wurde Hammons zu ihm durch einen Besuch in einer Todeszelle. Er wünschte sich, dass die Installation vor den Hintergrund eines historischen Wandfreskos aufgestellt wird, das Handelsrouten auf dem Höhepunkt der Kolonialzeit darstellt. Somit verweist Minimum Security für Hammons auf das Zeitalter der Unterdrückung. Pinault sieht in dieser Konfrontation einer von Europa beherrschten Welt der Vergangenheit mit dem kritischen Blick von heute das diskursfreudige Gegenmodell zur Cancel Culture. Hammons Werk Oh say can you see (2017) zeigt ein durchlöchertes und zerrissenes Sternenbanner in den Farben der Afrikanischen Union. Es erinnert an an die Schwarzen, die für Amerika gefallen sind. Doch nicht jedes Werk von Hammons handelt von Unterdrückung und Kolonialismus. Seine Installation Untitled, 2000 eines mit Kronleuchtern dekorierten Basketballkorbs spielt auf die Rolle dieses Sports auf den Straßen New Yorks an. Die Kronleuchter stehen für die Träume vom sozialen Aufstieg, den viele Sportler, Schwarze zumal, mit diesem Sport verbinden.

Philippe Parreno
 erleuchtet die Colonne Médicis mit seinem LED-Kunstwerk Mont Analogue (2001-2020
). Königinmutter Katharina de‘ Medici ließ die Säule 1574 als Teil ihres Stadtpalastes für astronomische Beobachtungen errichten. Dort, wo einst ihr Hôtel Particulier stand, steht heute die Bourse de Commerce. Foto: Aurélien Mole

Wenn Pinault sagt, er wolle als Kurator der Eröffnungschau zeigen, was für ein Mensch er ist, dann darf man fragen, was sie über seinen Charakter als Mensch und als Sammler verrät. Zum einen, dass er Widersprüche in sich vereint. Zeitweise setzte er als Sammler auf Sicherheit, auf etablierte Namen und Blue Chips wie Jeff Koons, Takashi Murakami und Damien Hirst (denen in Paris jedoch keine eigene Schau gewidmet ist). Doch er ist auch ein Anti-Konformist, der die gesellschaftskritische Kunst schätzt. Und der sich die Freiheit nimmt, unbekannte Künstler zu kaufen, wenn er von der Aussage ihrer Arbeit überzeugt ist. Dabei weiß er vermutlich, dass der Marktwert eines Künstlers schon dadurch steigt, dass Pinault ein Auge auf ihn wirft. Auffällig ist sein Ehrgeiz. Es scheint, als wolle er viele wesentliche Strömungen und Künstler der Gegenwart in seine Sammlung integrieren. Dieser universale Anspruch gleicht dem eines staatlichen Museums für Gegenwartskunst. Mit dem Unterschied, dass der jährliche Ankaufsetat des Milliardärs den staatlicher Häuser wie des Centre Pompidou und des Louvre spielend übertrifft. Gerüchteweise betrug der jährliche Ankaufsetat von Pinault schon 180 Millionen Euro, der des Centre Pompidou liegt eher im einstelligen Millionenbereich und. Der Sammler sieht sich gegenüber den staatlichen Museen auch im Vorteil, weil er Ankäufe schnell tätigen kann, während die Mühlen staatlicher Ankaufskommissionen naturgemäß langsam mahlen. Was nun der bessere Weg für den Ankauf von Kunst ist, die breite fachliche Diskussion oder die spontane Überzeugung eines fachlich versierten Privatsammlers, lässt sich schwerlich sagen. Was François Pinault zur Eröffnung an Gegenwartskunst ausstellt, ist beachtlich und füllt Lücken der Pariser Museen.

Dass der Kunstsammler als Ouvertüre ein Degustationsmenü mit kleinen und großen Häppchen serviert, geht ebenfalls bei der Erstpräsentation einer breit angelegten und vielseitigen Kunstsammlung in Ordnung. Danach wird es darum gehen, dass die Pinault Collection thematisch Akzente setzt, Breite mit Tiefe verbindet. Hier wird der Sammler auf seine eigenen Kuratoren zurückgreifen. Doch es wäre ebenso spannend, zu sehen, was herauskommt, wenn die Pinault Collection zusammen mit den staatlichen Häusern Ausstellungen entwickelt. Die Pinault Collection ist für sich genommen eine eindrucksvolle Sammlung der Gegenwartskunst. Als gelegentlicher Partner der staatlichen und städtischen Museen wäre sie in doppelter Hinsicht ein Gewinn für Paris.

© Holger Christmann

Infos:

Bourse de Commerce – Pinault Collection. 2 rue de Viarmes, 75501 Paris. Geöffnet Mo bis So 11 bis 19 Uhr (Di geschlossen). www.pinaultcollection.com

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