Kunst
Der talentierte
Mr. Shrigley
Vom Berliner Gallery Weekend bis zur Art Basel: Warum Künstler mit Champagner- und Weinherstellern kooperieren – zum Beispiel mit Ruinart und Ornellaia.
VON HOLGER CHRISTMANN
22. September 2021
Der britische Künstler David Shrigley in der Champagne auf Suche nach Inspiration. Foto: Frédéric Guélaff
Zu einem ungewöhnlichen Kunstevent kamen Mitte September Blogger und Journalisten im Vorfeld des Berliner Gallery Weekends zusammen. Die Gäste – zu denen der Autor dieser Zeilen gehörte – trafen sich am frühen Abend am Projektraum der Galerie BQ in der Rosa-Luxemburg-Straße. Eine Bustour führte anschließend an so typische Berliner Orte wie einen Späti in der Rosenthaler Straße, die Cocktailbar 131 in der Chausseestraße, Wittys Currywustbude in der Friedrichstraße und zu einem Zeitungskiosk am Kurfürstendamm. Der Anlass für die Rundfahrt: An diesen Orten hatte der britische Künstler David Shrigley eine seiner humorigen Zeichnungen hinterlassen. Anschließend richtete Dalad Kambhu, eine angesagte Berliner Sterne-Köchin, die für ihre innovativen thailändischen Gerichte bekannt ist, ein Abendessen in einem Biergarten aus.
Sein neuer Freund: David Shrigley neben dem Denkmal für den Benediktinermönch Dom Thierry Ruinart in Reims. Der Ordensbruder entlockte einst einem anderen hochproduktiven Pater, Dom Pérignon, das Geheimnis der Herstellung von moussierendem Wein. Foto: Frédéric Guélaff
Organisiert hatte die Unconventional Bubbles Tour die Champagnermarke Ruinart. Der Hersteller, der 1729 vom Neffen des Benediktinermönchs Dom Thierry Ruinart gegründet wurde, hat eine lange Tradition in der Zusammenarbeit mit Künstlern. 1896 beauftragte André Ruinart den tschechischen Jugendstilkünstler Alfons Mucha mit einem Werbeplakat. Zuletzt gab die Maison prominenten Künstlern wie Vik Muniz, Jaume Plensa und dem Chinesen Liu Bolin Carte blanche – so heißt das Kunstprogramm von Ruinart. 2021 ließ sich nun David Shrigley von der Weinherstellung in den Hügeln der Champagne zu Kunst inspirieren.
Mit dieser Arbeit würdigt David Shrigley die Leistung des Kellermeisters, der für den Champagner nur die besten Trauben zulässt. Foto: Ruinart
Der 53 jährige Brite ist für seine ironischen Zeichnungen bekannt, die mit ihrer naiven Formensprache und ihren lakonischen und satirischen Textelementen zwischen Cartoon und Art Brut oszillieren. Ein britisches Kunstmagazin erkannte seine Popularität als Marke an und nannte ihn „die Coca Cola der milde subversiven Brit-Art“. Shrigley seziert scheinbar belanglose und bizarre Phänomene des Alltags. Das Onlinemagazin Artspace charakterisiert ihn so: „Wie die Gedanken eines sehr klugen Kindes, das den Witz und den Humor eines erfahrenen Beobachters der Erwachsenenwelt an den Tag legt, zeigen seine Illustrationen durchgestrichene Wörter, gekritzelte, ungleichmäßige Linien und düster-komische Aphorismen über die Welt.“ Shrigley kokettiert damit, als humorbegabter Mensch in der Kunstszene ein Außenseiter zu sein. Doch das trifft längst nicht mehr zu: Seine Werke finden sich in renommierten Sammlungen wie der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary Foundation, dem New Yorker Museum of Modern Art und der Londoner Tate Gallery. Er durfte die vierte Plinthe am Trafalgar Square bespielen. 2013 war Shrigley sogar für den Turner Preis nominiert. Was alles darauf hindeutet, dass es auch in der Kunstwelt Leute mit Sinn für Humor gibt.
Hier stellt David Shrigley klar, dass nur qualifizierte Mitarbeiter Trauben für den Champagner ernten dürfen. Ungeschulte Hände sind nicht erwünscht. Foto: Ruinart
Für seine Zusammenarbeit mit Ruinart besuchte Shrigley die Weinberge der Maison rund um Reims und befasste sich mit den Ritualen und Bräuchen der lokalen Winzer, Önologen und der Menschen, die den Champagner buchstäblich „zum Leben erwecken“. Kellermeister Frédéric Panaïotis wies ihn in die Geheimnisse der Champagnerproduktion ein. Von den rund hundert Werken, die Shrigley daraufhin in seinem Atelier in Brighton schuf, wählte der Auftraggeber 36 Gouachen, Zeichnungen und Illustrationen aus, schwarz-weiße und farbige. In die Kreidewände der Ruinart-Keller ritzte der Künstler Graffiti und Reliefs. Außerdem entwarf er für eine limitierte Edition des Ruinart Blanc de Blancs Jéroboam ein Etikett und eine mit Zeichnungen versehene Kiste, die als Kühler dient. Jedes dieser dreißig limitierten Exemplare ist nummeriert und vom Künstler signiert. Die Dreiliter-Jéroboam-Flasche kann man auf www.clos19.com, der E-Commerce-Seite von Moët-Hennessy, für 3500 Euro kaufen.
David Shrigley lässt sich von Ruinarts Kellermeister Frédéric Panaïotis die Remuage erklären. Foto: Frédéric Guélaff
Der Künstler zeigte sich von seinem Abstecher in die Welt des Weines sichtlich beeindruckt. Er sagt, ihm gefalle die Tatsache, dass Champagner „ein lebendiges Produkt ist und aus einer Pflanze hergestellt wird, die in der Erde wächst. Sie ist den Elementen unterworfen: dem Boden, dem Himmel, dem Wetter, den Insekten, die sie entweder zerstören oder die Bestäubung erleichtern. Für mich gibt es da eine Menge interessanter Metaphern.“ So liege eine „gewisse Magie darin, dass die Mikroorganismen, die die Bläschen erzeugen, das entscheidende Element des Champagners sind.“ Außerdem gefiel ihm der nachhaltige Prozess des Weinbaus. „Die Rebstöcke werden gepflegt, und es wachsen weitere Trauben nach. Dieser Gedanke der Nachhaltigkeit ist wichtig. Die Zerbrechlichkeit dieser Dinge ist Teil unseres Lebens, Teil unseres politischen Denkens: Wir müssen sie anerkennen und können ihr nicht entkommen.“
Hier erklärt der Künstler, wie anspruchsvoll Trauben und Reben sind. Menschliches Versagen, so Shrigley mit unverkennbar britischem Humor, werde hart bestraft. Dann „müssen wir Bier trinken“. Foto: Ruinart
Wer denkt bei Champagner schon an Würmer? David Shrigley schon. Tatsächlich tragen Regenwürmer im Weinbau zur Auflockerung des Bodens bei. Foto: Ruinart
Für den Briten mit der spitzen Feder und Ruinart ging es nach dem Berliner Gallery Weekend weiter nach Basel zur wichtigsten Kunstmesse Europas, der Art Basel. Dort ist der Champagnerhersteller wie jedes Jahr omnipräsent, wie überhaupt Kunstmessen für die Interaktion der LVMH-Marke mit ihrem anspruchsvollen Kundenkreis eine zentrale Rolle spielen: ob auf der Frieze Los Angeles, der Art Dubai, der Tefaf Maastricht oder der Art Basel, überall trifft man auf das prestigeträchtige Logo mit dem gotischen Schriftzug. Auch in Basel (24. bis 26. September 2021) ist Shrigley mit einem Werk vertreten. In der Champagne faszinierte ihn die Rolle des Regenwurms, der dazu beiträgt, den Boden aufzulockern. In Basel taucht – Loch Ness gleich – ein gigantischer Wurm aus dem Rhein auf, allerdings zum Glück nur in erweiterter Realität (Augmented Reality) auf dem Mobiltelefon. Um das zu erleben, muss der Baselbesucher die App Acute Art auf sein Telefon laden und dann in der Stadt einen QR-Code finden. Der Wurm erwacht mittels dieses Codes auf dem Bildschirm des Smartphones zum Leben. Die Erfinder von Acute Art wollen mit solchen virtuellen Erlebnissen vor allem junge Leute für Kunst ansprechen. Für die Inhalte verantwortlich ist der schwedische Kunsthistoriker Daniel Birnbaum. Er leitete 2009 die Kunstbiennale von Venedig und war Direktor des Moderna Museet in Stockholm, bevor er 2019 bei Acute Art einstieg.
Baron Rothschild
bezahlte die Künstler
mit Wein
Kunst, Wein, Champagner, die Paarung scheint seit jeher zu harmonieren. Einer der ersten, die das erkannten, war Philippe de Rothschild. Er hatte die Idee, die Flaschen seines edelsten Gewächses, des Mouton-Rothschild, jedes Jahr mit Kunst im Miniaturformat schmücken zu lassen. Berühmte Künstler wie Jean Cocteau, Salvador Dali, Pablo Picasso, Joan Mirò und Niki de Saint Phalle gestalteten fortan die Rothschild-Etiketten. Der Baron wollte so die Einmaligkeit jedes Jahrgangs betonen, wie Joachim Kurz in seiner kurzweiligen Geschichte der Rothschildweine darlegt. Die Künstleretiketten festigten den Ruf des Erzeugers als feinsinniger Weinmacher, und es entstand eine Sammlerszene, die sich, wie Kurz süffisant ausführt, „ebenso sehr für die leeren Flaschen interessierte wie Weinliebhaber für die vollen“. Allerdings birgt Mut zur Kunst auch Risiken: Der Künstler Balthus stellte auf seinem Mouton-Rothschild-Etikett 1983 – nicht ganz unerwartet – ein nacktes Mädchen dar. Die Auslieferung des Jahrgangs in die Vereinigten Staaten musste gestoppt werden. Pech für die Amerikaner, dass der Mouton-Rothschild dieses Jahres als Nonplusultra gilt.
Der südafrikanische Künstler William Kentridge arbeitete 2018 mit dem toskanischen Weingut Ornellaia zusammen. Foto: Ornellaia
Auch heute unterstreichen vor allem Hersteller von Spitzenweinen durch Kooperationen ihre individuelle Klasse. Ein Beispiel ist das Weingut Ornellaia an der Küste der Toskana. Der Ornellaia gehört zu jenen Supertoskanern der Bolgheri-Region, die, anders als der Chianti, nicht aus der Sangiovese-Traube gewonnen werden, sondern ihre runde Geschmeidigkeit einer Cuvée aus Cabernet Sauvignon, Merlot, Cabernet Franc und Petit Verdot verdanken.
2009 lancierte Ornellaia erstmals seine Kunstinitiative Vendemmia d’Artista (Künstler-Lese). Sie besteht darin, dass jedes Jahr ein Künstler die Flaschen eines Jahrgangs mit Kunst versieht. Außer den Künstleretiketten entstehen vor allem bei den Großweinflaschen auch monumentale skulpturale Gebilde. Jede Ornellaia-Holzkiste der Künstleredition (à sechs Flaschen) enthält ein Exemplar mit Künstleretikett. Hinzu kommt eine limitierte Auflage von einhundertelf Großflaschen, hundert Doppelmagnum-Flaschen, zehn Sechs-Liter-Imperial-Flaschen und eine neun Liter fassende Flasche der Salmanazar-Größe, alle nummeriert und vom Künstler signiert. Außerdem produziert jeder Künstler ein Werk für das Weingut. Ornellaia setzt auf illustre Namen der zeitgenössischen Kunst wie Rebecca Horn, Zhang Huan, Michelangelo Pistoletto, John Armleder, William Kentridge und Shirin Neshat.
Tomás Saraceno 2019 bei der Präsentation seiner Arbeit für die Tenuta dell’Ornellaia. Foto: Stefano Casati
Tomás Saracenos Werk für Ornellaia: Auf den Flaschen stellte er die verschiedenen Phasen einer Sonnenfinsternis dar. Über dem größten Exemplar schwebt eine Saraceno-typische Sphäre. Foto: Ornellaia
Das Mäzenatentum scheint der Eigentümerfamilie im Blut zu liegen. Ornellaia ist im Besitz der Marchesi de‘ Frescobaldi, einer Florentiner Dynastie, die seit Jahrhunderten Wein produziert. Präsident des Weinguts ist der 81-jährige Marchese Ferdinando Frescobaldi. Schon in der Renaissance zeigte sich die Familie kunstsinnig. Mitte des 15. Jahrhunderts erbaute Filippo Brunelleschi, der geniale Schöpfer der Kuppel des Florentiner Doms, auf einem Grundstück der Frescobaldi im Florentiner Viertel Oltrarno die Kirche Santo Spirito. Mäzenatischen Charakter hat auch die Vendemmia d’Artista, denn eine Auswahl der Edition, vor allem die Großweinflaschen, wird jedes Jahr auf einer Charity-Auktion versteigert.
Bis 2018 kam der meist sechsstellige Erlös Museen zugute, so dem New Yorker Whitney Museum, der Neuen Nationalgalerie in Berlin, der Beyeler Fondation in Basel und dem Victoria and Albert Museum. Seit 2019 fließt der Auktionserlös jedes Jahr an das Mind’s Eye-Projekt der Solomon R. Guggenheim Foundation. Das Programm hilft blinden und sehbehinderten Menschen dabei, Kunstausstellungen mit anderen Sinnen zu erleben, die bei ihnen geschärft ausgeprägt sind. Pädagogen vermitteln ihnen Kunst durch verbale Beschreibungen und die Ansprache des Tastsinns.
Die Präsentation der Vendemmia d’Artista von Ornellaia, wie hier 2019 im Florentiner Palazzo Strozzi, ist ein festliches Ereignis. Im Bild u. a. zu sehen: Leonardo Frescobaldi (links außen), FEATURE-Chefredakteur Holger Christmann (vierter v. links), Ornellaia-CEO Giovanni Geddes da Filicaja (mit orangefarbener Weste), Corinne Godsall (Guggenheim Museum), Ferdinando Frescobaldi (mit Weinglas), Weingut-Direktor Axel Heinz (zweiter von rechts), Rosaria Frescobaldi (rechts). Foto: Stefano Casati
Eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit dem Thema Wein dokumentierte 2019 Tomás Saraceno. Auch er war – wie David Shrigley – beeindruckt von den Naturkräften, die den Wein und seine Qualität beeinflussen. Traubensorte, Sonne, Regen, Tag- und Nachttemperaturen und die Beschaffenheit des Bodens bestimmen seinen Charakter.
Saraceno konzentrierte sich auf den Faktor Sonne. Die Einflüsse von Sonnenwärme und Sonnenergie hatte der in Berlin lebende gebürtige Argentinier schon öfter künstlerisch verarbeitet. 2007 ließ er im kolumbianischen Medellín sein Museo Aereo Solar in die Luft steigen, einen Ballon aus zusammengeklebten Plastiktüten, der nur durch die natürlich erwärmte Luft im Innern der Ballonhülle empor getragen wurde. 2015 rief Saraceno die Aeroscene-Stiftung ins Leben. Das Aerozän ist seine Vision eines Zeitalters, das ohne fossile Brennstoffe, ohne Helium und übrigens auch ohne Solarzellen (für die Silizium benötigt wird) auskommt und stattdessen auf die pure, nachhaltige Kraft der Sonnenwärme setzt. Von der Sonne als Treibstoff bis zur Sonne als Lebensspender ist es kein weiter Weg. Sonnenlicht ermöglicht jegliches Pflanzenwachstum auf der Erde und spielt auch im Weinanbau naturgemäß eine zentrale Rolle. So gestaltete Saraceno für den Ornellaia-Jahrgang 2017 Etiketten mit den Phasen einer Sonnenfinsternis. Eine grell weiß und gelb leuchtende Korona umgibt den Mond, der sich zwischen Erde und Sonne geschoben hat. Der Jahrgang erhielt den Beinamen Solare (sonnig, strahlend). Parallel dazu war im Florentiner Palazzo Strozzi eine große Werkschau Saracenos zu sehen. Zur Ikone der Schau wurde Saracenos Installation Thermodynamic Constellation im Innenhof des Renaissance-Palastes. Drei ballonartige Sphären erinnern an Saracenos Experimente mit Montgolfieren, die nur mittels Solarenergie in große Höhen fliegen können. Eine solche Sphäre krönte auch eine der Ornellaia-Flaschen.
Dass Wein ein Naturprodukt ist, in dessen Erzeugung inzwischen auch planetarische Veränderungen wie der Klimawandel abzulesen sind, dürfte ein Grund dafür sein, warum Künstler gern mit Wein- und Champagnerhäusern kooperieren. Außerdem genießen Spitzenweine unter ihren Sammlern ein ähnliches Prestige wie Kunst. Aber auch ein anderer Faktor lässt sich nicht leugnen: Die Kunstszene liebt Champagner und Wein. Das machte es schon für Baron Philippe de Rothschild leicht, die Künstler zu entlohnen. Sein Honorar war wohlschmeckend und lukrativ zugleich: Es bestand aus fünf Kisten des Jahrgangs, für den das Etikett gedacht war, und fünf Kisten aus einem beliebigen anderen Jahrgang. Wer Zweifel hegt, ob damit ein Künstleretikett hinreichend gewürdigt war, den belehren die Preise eines Besseren: Eine Kiste mit sechs Flaschen Mouton-Rothschild von 2009 wird aktuell für 6900 Euro angeboten, ältere Jahrgänge erzielen durchaus den doppelten Preis und mehr.
© Holger Christmann