Exklusiv

Der Philhellene in
Downing Street 10

Seit Jahrzehnten streiten Griechenland und Großbritannien über eine mögliche Restitution der Elgin Marbles, Skulpturen vom Parthenon-Tempel in Athen, die im 19. Jahrhundert ins British Museum gelangten. Die Kontroverse ist wieder aufgeflammt und erhält neue Nahrung durch einen Brief des jungen Boris Johnson an Griechenlands Kulturministerin Melina Mercouri, der FEATURE vorliegt. Doch es bleibt die Frage, ob sich eines der bedeutendsten Museen der Welt freiwillig selbst enteignen wird. 

VON HOLGER CHRISTMANN
18. Juli 2022
Am 12. Juni 1986 begrüßte Boris Johnson an der Universität Oxford Griechenlands Kulturministerin Melina Mercouri. Ein bislang unbekannter Brief Johnsons an Mercouri zeigt, dass der Student eine Rückgabe der Elgin Marbles an Griechenland befürwortete. Foto: picture alliance/Reuters/Brian Smith

Der Schauspieler Stephen Fry war sich einig mit George Clooney, Bill Murray und Matt Damon. Clooneys Ehefrau, die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, bot sogar ihre anwaltliche Hilfe an. Die Rede ist von den Elgin Marbles. Die Marmorfriese und Skulpturen vom Parthenon-Tempel auf der Akropolis gehören seit zweihundert Jahren zu den Hauptattraktionen des British Museum in London. Griechenland findet seit Jahrzehnten, dass sie dort nicht hingehören, sondern dass sie nach Athen zurückkehren sollten – und wird darin von prominenten Kulturschaffenden unterstützt. Jetzt plädiert laut Umfragen auch die Mehrheit der Briten dafür, dass Großbritannien die Kunstwerke zurückgeben solle. Und selbst Englands Presse, lange über den Fall gespalten, bildet ungewöhnliche Allianzen. Während der linksliberale Guardian spöttisch gefordert hatte „The Greeks gave us the Olympics. Let them have their marbles“, schwenkte auch die konservative Times auf Rückgabekurs ein und hält nun eine Lösung für „zwingend“. Was Rupert Murdochs Traditionsblatt seinen konservativen Lesern nahelegt, setzte schon immer vor allem Tory-Regierungen unter Druck.

Der griechische Journalist Yannis Andritsopoulos goss Anfang Juli Öl ins Feuer, als er in Oxforder Archiven einen flammenden Brief des jungen Boris Johnson an die griechische Kulturministerin Melina Mercouri fand, in dem der damalige Student der Altertumswissenschaften am Balliol College in Oxford sich als vehementer Verfechter einer Repatriierung der Elgin Marbles gerierte. FEATURE veröffentlicht diesen Brief weiter unten. Zu bröckeln scheint die Solidarität unter Museen, die Kunst vom Parthenon besitzen. Die Fragmente vom Parthenon sind auf Häuser wie den Louvre, die Vatikanischen Museen, das Nationalmuseum Kopenhagen, das Kunsthistorische Museum in Wien, die Münchner Glyptothek und das Würzburger Martin-von-Wagner-Museum verstreut. Anfang des Jahres gab die Regionalregierung von Sizilien das Fagan-Fragment aus dem Antonino-Salinas-Museum in Palermo an Athen zurück, ein 35 mal 31 Zentimeter großes Marmorfragment vom Parthenon-Tempel, das den Fuß der griechischen Göttin Artemis darstellt. Ein kleines Opfer im Vergleich zu den umstrittenen Fragmenten im British Museum, die allein 75 Meter des berühmten Frieses umfassen. Doch auch dort scheint ein Umdenken einzusetzen. Der oberste Treuhänder des British Museum, George Osborne, verkündete jedenfalls im Juni, eine Art von Einigung werde es mit Griechenland geben. Wendet sich also das Blatt in einem jahrzehntelangen Konflikt? Griechenlands Parlamentssprecher Konstantin Tassoulas hofft jedenfalls, „dass Lord Byron über Lord Elgin siegt“.

Schon Lord Byron
kritisierte Elgins Tat

Der berühmte Dichter Byron (1788 – 1824) gehörte zu den ersten und schärfsten Kritikern des Mannes, der die Antiken nach England gebracht hatte. In seinem Gedicht Der Fluch der Minerva prangerte Byron 1811 den „Verderber“ an, der schlimmer als Türken und Goten gewütet habe. In Byrons Versepos von der Pilgerfahrt des Schildknappen Harold (Childe Harold’s Pilgrimage, 1812 – 1818) heißt es: „Kalt ist das Herz, das nicht für Hellas fühlet,/Was man empfindet für Geliebter Staub,/Das Auge stumpf, das keine Träne kühlet,/Sieht es von Briten Hand als kühnen Raub,/Hinweg die Trümmer und Altäre tragen.“ Goethe hingegen feierte die Ankunft der Kunstwerke in London als Beginn einer neuen Epoche „für die Einsicht in höhere bildende Kunst“. Die Griechen wiederum sind überzeugt, dass Großbritannien vor mehr als zweihundert Jahren einen Teil ihrer Seele entführte.

Damals verschiffte Thomas Bruce, der 7. Earl of Elgin, die Schätze von Parthenon nach London. Als Legitimation hielt er eine Genehmigung der Hohen Pforte in Händen, der Regierung des Osmanischen Reichs. Griechenland war seit dreieinhalb Jahrhundert von den Türken beherrscht. Ihren eigenen Staat erkämpften sich die Hellenen erst in ihrem Unabhängigkeitskrieg, der von 1821 bis 1829 andauerte.

Skulpturen vom Ostgiebel des Parthenons im British Museum. Foto: Trustees of the British Museum

Der Parthenon war Teil des perikleischen Bauprogramms zum Wiederaufbau Athens nach dem Sieg in den Perserkriegen. Athen erhielt nun Tributzahlungen aus eroberten Provinzen. Dank dieser Zuflüsse aus dem Imperium besaß Perikles die finanziellen Mittel, den Parthenon prächtig auszustatten. Die Bauaufsicht hatte der legendäre Bildhauer Phidias, der einen Teil der Reliefs und Skulpturen auch selbst ausführte. Um 432 vor Christus war das Parthenon fertiggestellt.

Das Parthenon wurde zum zentralen Heiligtum auf der Akropolis. Er ist auch heute das Wahrzeichen Athens und ein vielfach nachgeahmter Inbegriff des dorischen Tempels, bei dem das Heiligtum, die Cella, von einem Wandelgang mit Säulenkranz umgeben ist. Die Architekten wussten so viel über Statik und Perspektive, dass sie die Säulen in der Mitte verbreiterten, so dass sie von weitem gerade wirken. Entasis hieß dieser Kunstgriff. Das Parthenon ist zugleich ein Symbol für die kulturelle und politische Blüte des perikleischen Zeitalters, das als Wiege der Demokratie gilt. Tatsächlich verlor die Aristokratie unter Perikles viele ihrer Privilegien, Amtsträger wurden durch Losverfahren ermittelt, was für mehr Chancengleichheit zwischen Arm und Reich sorgte. Andererseits kamen nur ethnische Athener in den Genuss der vollen demokratischen Rechte, also Bürger, die von athenischen Eltern abstammten. Zugleich ist der Tempel ein Symbol des Imperiums, zu dem Athen damals aufstieg.

Der griechische Reiseschriftsteller Pausanias (115 bis 180 n. Christus) bewunderte an Parthenon in seiner Beschreibung Griechenlands vor allem das Phidias zugeschriebene, später verschollene Standbild der Göttin im Zentrum der Anlage: „Sie ist aus Elfenbein und Gold gefertigt“… „stehend dargestellt und mit einem mit bis zu den Füßen herabreichendem Chiton bekleidet“… „Auf der Brust ist das Haupt der Meduse von Elfenbein abgebildet“. Er beschreibt auch die Giebelszenen mit der Geburt der Athena und dem Streit zwischen Athena und Poseidon um das attische Land. Zu den Skulpturen des Ostgiebels gehörte auch der Kopf des Pferdes der Selene, der heute im British Museum ausgestellt ist. Die Althistorikerin Mary Beard, selbst eine der Trustees der Schatzhauses im Londoner Stadtteil Bloomsbury, schreibt in ihrem wunderbaren Buch über das Parthenon, dass die brillante Darstellung völliger Erschöpfung, „die aufgeblähten Nüstern und die über den Giebelrand herabhängende Kinnlade“, seit Generationen die Museumsbesucher begeistere.

Der Parthenonfries
zeigt eine Prozession

Den berühmten Fries erwähnte Pausanias nicht. Das 160 Meter lange Band mit Reliefs setzte die Entwicklung fort, ein einziges Thema um den ganzen Tempel herum zu entfalten und die Szenenfolge nicht durch dekorative Platten, die Triglpyhen, zu unterbrechen. Dargestellt ist die Prozession zur Akropolis während der Großen Panathenäen, dem Fest zu Ehren der Göttin Athene. Eine bunte Gesellschaft macht sich auf den Weg zu einem Standbild der Athene: eponyme Heroen, die namensgebenden Stammväter der zehn wahlberechtigten Stämme Athens, Ergastinai, Frauen, die das neue Gewand für die Athena nähten, Priester, die Athena Opfergaben bringen, Götter, die dem Prozessionszug beiwohnen und ein Zug von Kavalleristen auf schnaubenden Pferden. Höhepunkt der Prozession ist die Übergabe des Peplos, des neuen Gewandes für Athene, das die Bürger einmal im Jahr dem Standbild darboten. Vor allem die Kavallerie-Szenen sind außergewöhnlich lebendig dargestellt: Ein Reiter dreht sich nach einem anderen um, die Gewänder flattern im Wind, die Kopfhaltungen der Pferde im Galopp verraten, das ihr Schöpfer Phidias die Natur genau studiert hat. Stellenweise sind mehrere Reiter hintereinander gestaffelt, so dass der Betrachter glatt vergessen könnte, dass die Relief nirgends tiefer als sechs Zentimeter sind.

Das Pferd der Selene vom Ostgiebel des Parthenons (438 bis 432 v.Christus). Foto: Adobe Stock/Trustees of the British Museum

Als Großbritannien den Schotten Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin, 1799 zum britischen Botschafter in Konstantinopel berief, stand Griechenland seit 341 Jahren unter osmanischer Herrschaft. Das Parthenon, zwischenzeitlich zur Kirche, später zur Moschee umgewidmet, war nur mehr eine Ruine. Heftig zugesetzt hatte ihm der venezianisch-türkische Krieg. Auf der Akropolis befand sich die türkische Garnison. Sie hatte ihre Munition in dem antiken Heiligtum deponiert und hoffte wohl, dass die venezianische Flotte es nicht wagen würden, das Monument zu beschießen. Die Venezianer nahmen keine Rücksicht auf das griechische Kulturerbe und feuerten mit Kanonen auf die türkische Garnison. Eine Kanonenkugel traf das Parthenon, sprengte das Dach der Moschee und einen großen Teil des Bauschmucks weg und tötete 300 Menschen, die in der Anlage Zuflucht gesucht hatten.

Sofort begannen sich privilegierte Plünderer, an den Überresten zu bedienen. Nachdem sich die türkische Garnison ergeben hatte, wollte der venezianische General Francesco Morosini, Teile des Westgiebels erbeuten. Beim Versuch, die Konstruktion abzubauen, rissen Seile, ein Teil der Figuren zerschellte am Boden. Heil blieb der Kopf des Apollo, den Morosini als Trophäe mitnahm. Das Fragment wird heute im Louvre aufbewahrt. Ein Kunstjäger war auch ein anderer Franzose, der Comte de Choiseuil-Gouffier, Botschafter an der Hohen Pforte. Er sicherte sich eine Metope und eine Friesplatte, die beide ebenfalls im Louvre zuhause sind. Als Elgin die Akropolis besuchte, nutzten die Anwohner den heiligen Hügel als Steinbruch für Baumaterial und als Quelle für Fragmente, die sie kunstsinnigen ausländischen Besuchern zum Kauf anboten. Glaubte Lord Elgin, er bewahre die Kunstwerke des Parthenons davor, in alle Winde verstreut zu werden, wenn er sie abnahm und nach London in Sicherheit brachte?

Niemand nahm sich
so viel Kunst wie Englands
Erzrivale Napoleon

Dachte er an auch an die andere Großmacht, Frankreich, und ihren Feldherrn Napoleon? Der hatte Kunst-Trophäen aus Deutschland und den Niederlanden, vor allem aber aus Italien nach Paris entführt und ließ sich in Frankreich dafür feiern: Werke wie den Laokoon, den Apoll vom Belvedere, die Quadriga der Basilica von San Marco und Veroneses Hochzeit von KanaaKunstwerke wie diese erlaubten es dem entzückten ersten Direktor des Louvre, Dominique-Vivant Denon, ein Weltmuseum aufzubauen. Sollte nicht auch er, Lord Elgin, seinem Heimatland solchen Trophäen zu Füßen legen und sich damit um England verdient machen? So oder ähnlich könnten Lord Elgins Gedanken gewesen sein, als er beschloss, dem Parthenon mit Hammer und Meißel zu Leibe zu rücken.

Anders als Frankreichs künftiger Imperator besorgte sich Elgin eine offizielle Genehmigung für seine Taten, einen Ferman. Der Sultan oder einer seiner Minister erteilte sie ihm. Dabei spielte womöglich Dankbarkeit eine Rolle. Denn Großbritannien in Gestalt von Admiral Nelsons Flotte hatte dem Osmanischen Reich eine seiner größten Gefahren vom Leib gehalten hatte. In der Seeschlacht von Abukir hatte Nelson 1798 Napoleons Flotte einen herben Schlag versetzt und damit Frankreichs Seemachtsträume begraben, die Vormacht der Osmanen im östlichen Mittelmeer gesichert und denen Großbritanniens Flügel verliehen.

Junge Kavalleristen auf dem Parthenonfries. Die Reiter versuchen ihre Pferde zu bändigen. An deren Köpfen sieht man noch die Löcher, in denen einst Pferdegeschirre aus Metall angebracht waren. Foto: Adobe Stock/Trustees of the British Museum

Anfangs ging es dem Schotten auch wohl gar nicht darum, den Bauschmuck vom Parthenon zu entfernen. Lord Elgin begeisterte sich, wie viele gebildete Zeitgenossen, für die Kunst und Architektur der Antike. Da es in England kaum Anschauungsmaterial für griechische Kunst gab, das Architekten und Künstlern als Vorbild hätte dienen können, regte sein Architekt Thomas Harrison an, dass Elgin auf seine bevorstehende Reise nach Konstantinopel Künstler mitnehmen solle, die Antiken abzeichnen und vermessen. So reiste Elgin mit einer Delegation von Künstlern an. Auf einem Zwischenstopp auf Sizilien nahm er einen Hofmaler des Königs von Neapel, Giovanni Battista Lusieri, an Bord.

Damit seine Künstler die Akropolis betreten konnten, benötigte er eine Genehmigung, im Umfeld der türkischen Garnison auf dem Hügel zu arbeiten. Er erhielt vom Sultan oder einem seiner Minister den erwähnten Ferman. Der sicherte ihm zu, dass seinen Helfern keine Hindernisse in den Weg gelegt würden, „wenn sie (am Parthenon) Steinstücke mit alten Inschriften und Figuren wegnehmen“ und dass seine Künstler Ausgrabungen machen durften. Die Formulierung des Ferman war auslegungsfähig, oder wie das britische Unterhaus später befand, „elastisch“ formuliert. Angreifbar wird der Ferman zumindest dadurch, dass er nur in italienischer Übersetzung erhalten ist. Das Original ist verschollen.

Was als ehrenwertes Abzeichnen und Vermessen von Antiken begann, verwandelte sich in ein Ausgrabungs- und Abrissunternehmen. Angeblich überredeten Lusieri und der anglikanische Pfarrer Philip Hunt Elgin dazu, Friesplatten und herumliegende Skulpturen zu entfernen, um sie vor türkischen Antikenhändlern und Touristen in Sicherheit zu bringen. Ob der Botschafter von Anfang an auf Trophäenjagd war oder erst dazu überredet wurde, ist nicht bekannt. Doch die schon erwähnten Beweggründe – Kunstgüter vor der langsamen aber sicheren Zerstörung und Ausplünderung zu retten, der Ehrgeiz, England ein Geschenk zu machen, die Kunstwelt Englands zu bereichern, den Franzosen und Napoleon zuvorzukommen – spielten gewiss eine Rolle. So kam es, dass Lord Elgin bald hunderte Helfer am Tag beschäftigte, um Gerüste aufzubauen und Skulpturen und Friesplatten abzusägen. Am Ende brachte der Botschafter fünfundsiebzig Meter des Frieses, fünfzehn der zweiundneunzig plastischen Paneele (Metopen) und siebzehn lebensgroße Figuren, die einst die Giebelfelder des Tempels, die Pedimente, zierten, in seinen Besitz.

Als er sie nach England verschiffen wollte, fand er jedoch keinen Kapitän, der die schwere Fracht durch unruhige See lotsen wollte. Lord Elgin griff schließlich auf sein eigenes Schiff, den Zweimaster Mentor, zurück, um seine Beute nach London zu bringen. Im September 1802 rammte die Mentor an der Ostküste der Insel Kythera einen Felsen, siebzehn Kisten sanken. Erst zwei Jahre später war die kostbare Beute aus zweiundzwanzig Metern Tiefe geborgen. Am 16. Februar 1805 holten zwei britische Schiffe die Ladung auf Befehl Admiral Nelsons auf Kythera ab.

Einige der schönsten
Friese und Skulpturen
sind in London

Später beklagte sich der Adlige, dass ihn das ganze Unternehmen enorme Summen gekostete habe: rund siebzigtausend Pfund, die er sich teilweise geliehen hatte. Er steckte in finanziellen Nöten. Möglicherweise dachte er zuerst daran, die Schätze auf seinem schottischen Familiensitz Broomhall House auszustellen. Nun sah er sich gezwungen, die Sammlung dem British Museum anzubieten. Das britische Unterhaus richtete 1816 einen Sonderausschuss ein, der den Wert der Skulpturen schätzen und verschiedene Fragen prüfen sollte: Mit welcher Befugnis hatte Lord Elgin die Sammlung erworben? Hier verwies Elgin auf den Ferman, den offenbar auch der Kommandant der türkischen Garnison so verstand, dass der Botschafter und seine Helfer Kunstwerke wegschaffen durften. Waren die Skulpturen  bedeutend genug war, sie in öffentliches Eigentum zu überführen? Einige Kritiker waren zwar vom Realismus und der Dramatik der Kunstwerke überrascht, die nicht zum Ideal erhabener Ruhe und Schönheit passte, das sie mit griechischer Kunst verbanden. Die meisten Gutachter erkannten jedoch die herausragende Bedeutung der Werke. Und es war das erste Mal, das Originalwerke griechischer Kunst – nicht Kopien – auf der britischen Insel zu sehen waren. Die Kommission wollte wissen, ob Lord Elgin seinen Status als Botschafter missbraucht hatte, um in den Besitz der Werke zu gelangen. Diese Frage ließ sich nicht ganz so eindeutig beantworten.

Der Ausschuss befand Lord Elgins Belege und Beweggründe für glaubwürdig und die Qualität der Werke für erstrangig und stimmte für einen Ankauf. Der Kaufpreis sollte 35 000 Pfund betragen – das war zwar nur die Hälfte des von Lord Elgin geforderten Betrags, aber Elgin hatte keine Wahl. Er musste das Angebot annehmen, um einen Teil seiner Kosten wieder einzuspielen. Das Parlament stimmte dem Erwerb mit zweiundachtzig zu dreißig Stimmen zu und stellte dem British Museum die Summe zur Verfügung. Neue Eigentümer der Sammlung waren nun die Trustees des British Museum. Ab August 1816 war die Sammlung zunächst in einem provisorischen Gebäude, 1835 an einem dauerhaften Platz zu sehen. Heute ist sie das Prachtstück der Duveen Gallery des British Museum.

Mit den Elgin Marbles gelangten rund die Hälfte des Frieses und bedeutende Giebelskulpturen nach Großbritannien, darunter einige der schönsten und besterhaltenen: Reiterszenen vom Westfries, die zentrale Peplos-Szene und die Skulpturen vom Ostgiebel wie der sitzende Dionysos, die sitzende Dreiergruppe von Leto, Dione und Aphrodite und der Kopf des Pferdes der Selene. 

Sehnsuchtsort von Griechen und Menschen aus aller Welt: Die Akropolis mit dem Parthenon, dem beherrschenden Tempel des heiligen Hügels. Foto: Mohammed Zar

Lord Elgin behauptete, die Parthenon-Skulpturen nach England in Sicherheit gebracht zu haben. Tatsächlich brach wenige Jahre nach dem Ankauf der griechische Unabhängigkeitskrieg aus. Im März 1821 rief die Filiki Eteria, ein in Odessa gegründeter Geheimbund griechischer Patrioten, zum Aufstand gegen die osmanischen Fremdherrscher auf. Der griechische Unabhängigkeitskrieg dauerte bis 1829, und unter ihm litten auch die Kulturdenkmäler. Türkische Soldaten auf der Akropolis zerschlugen Säulen und Marmorblöcke, um an das Blei heranzukommen, das die Baumeister griechischer Tempel in die Verklammerungslöcher des Marmors gefüllt hatten. Sie ließen das Blei der Säulen zu Gewehrkugeln gießen.

Die Griechen entdeckten inmitten der Gefechte ihre Liebe zum Denkmalschutz. Die antiken Monumente wurden zu Symbolen griechischer Identität. Der Athener Freiheitskämpfer Kyriakos Pittakis soll den Türken Bleikugeln geschickt haben, damit sie aufhörten, das Blei der Säulen zu stehlen. Pittakis wurde 1837 erster Denkmalschützer des unabhängigen Griechenlands. 

Derweil erwachte im Westen der Philhellenismus. Ausgelöst hatten ihn auch die griechischen Skulpturen in London, die im British Museum tausend Besucher am Tag anlockten. Wie von Elgin erhofft, beeinflussten die Parthenon-Skulpturen Kunst und Architektur in England. Friese im Stil des Parthenon-Szenen fanden sich bald an Londons Fassaden. Der Dichter John Keats brachte sein Entzücken in seinem Sonett On Seeing the Elgin Marbles zu Papier. Eine Greco-Mania brach aus, die auch eine politische Seite bekam, als Franzosen, Deutsche und Engländer Seite an Seite mit den Griechen für deren Unbahängkeit kämpften. Der prominenteste war der Griechenland-Schwärmer Lord Byron, der in der belagerten Festung Missolunghi eine Brigade anführte. Schon drei Monate später starb er, nur 36, in Griechenland an den Folgen einer Lungenentzündung. Eugène Delacroix hielt das osmanische Massaker an der Bevölkerung von Chios auf einem Gemälde fest, das Europa rührte. Die westlichen Mächte halfen Griechenland, den Krieg zu gewinnen und einen griechischen Staates zu gründen. Der aus Bayern gesandte bayerische Prinz Otto wurde erster König des neuen Staates. Er brachte den Architekten Leo von Klenze mit, der auf der Akropolis – auf Kosten anderer Spuren – die klassische Antike wieder strahlend zur Geltung bringen wollte. In diesem Geist ließ der Troja-Entdecker Heinrich Schliemann 1974 den fränkischen Turm aus der Kreuzritterzeit abreißen.

Als Melina Mercouri
auf Boris Johnson traf

Lange blieb es still um die Parthenonfriese. Ein Wendepunkt brachten die 1980er Jahre. 1981 berief Ministerpräsident Andreas Papandreou die Filmschauspielerin Melina Mercouri („Topkapi“) zur Kulturministerin. 1982 hielt die charismatische Griechin vor der Unesco eine historische Rede, in der sie die Rückgabe der Elgin Marbles forderte. 1986 sprach sie in England vor den Elite-Studenten der Oxford Union und legte dar: „Sie müssen verstehen, was die Parthenon Marbles für uns bedeuten. Sie sind unser Stolz. Sie sind unsere Opfer. Sie sind unser nobelstes Symbol für Exzellenz. Sie sind eine Hommage an die demokratische Philosophie. Sie sind unsere Aspirationen und unser Name. Sie sind die Essenz des Griechentums … im Namen von Fairness und Moral, bitte geben Sie sie zurück. Ich glaube aufrichtig, dass eine solche Geste für immer dem Namen Großbritanniens Ehre machen würde.“ 

Zu dem Aufritt eingeladen hatte Boris Johnson, Student der Altertumswissenschaften und Präsident der Oxford Union. Seinen Einladungsbrief an Mercouri entdeckte der Journalist Yannis Andritsopoulos, London-Korrespondent der griechischen Zeitung Ta Nea, Anfang Juli jetzt in Archiven der Universität Oxford. Er ließ FEATURE eine Kopie des Briefs zukommen. Johnson nennt darin den Umgang der britischen Regierung mit dem Thema „skandalös“. Scheinbar überzeugt führte aus: „Ich denke, die Mehrheit der Studenten stimmt mit mir darin überein, dass es keinen Grund dafür gibt, warum die Elgin Marbles, die bedeutendsten und schönsten Schätze, die uns die Antike hinterlassen hat, nicht sofort an ihren rechtmäßigen Platz in Griechenland zurückgebracht werden sollten.“ 

Der Brief Boris Johnsons an die griechische Kulturministerin Melina Mercouri, der FEATURE vorliegt, zeigt ihn als flammenden Befürworter einer Rückgabe der Elgin Marbles. Foto: Yannis Andritsopoulos/Ta Nea

Schon vor dem Besuch der Kulturministerin hatte Johnson einen Artikel für die Club-Zeitschrift Debate verfasst. Ihn hatte Andritsopoulos schon früher in den Archiven gefunden und veröffentlicht. Hier polterte Johnson, Lord Elgin habe die „Beinahe-Anarchie“ des Vasallenstatus‘ des Landes ausgenutzt, um die Schätze aus dem Tempel „sägen und hacken“ zu lassen. 

Dem Auftritt Melina Mercouris im Oxford Club schloss sich eine Debatte an, deren Verlauf, so Andritsopoulos, „auf mysteriöse Weise“ verschwunden sei. „Ich habe in den Archiven verschiedener Bibliotheken in Oxford nach ihnen gesucht, aber ohne Erfolg“. „Wem könnte ihr Verschwinden nützen?“, fragt der Journalist.

Seine Beamten in Downing Street, die Kummer gewohnt sind, bring der Noch-Premierminister mit dieser Enthüllung nicht zum ersten Mal in Verlegenheit. Sie erklären Johnsons leidenschaftliche Epistel damit, dass er sie in einem „Anflug momentanen Überschwangs“ – „in a fit of momentary exuberance“ – verfasst habe.

Für Johnson-typische Heiterkeit sorgt ein anderes Schreiben des Studenten an den Presseattaché der griechischen Botschaft, das Yannis Andritsopoulos ebenfalls in den Oxforder Archiven gefunden hat. Darin kündigte Johnson für den Vorabend des Besuchs Melina Mercouris eine „große und prächtige Party“ an. „Um die Sache in Schwung zu bringen, sind wir auf der Suche nach billigem Ouzo und Retsina“, schrieb Johnson. „Mir wurde gesagt, dass es vielleicht möglich ist, sie über die Botschaft zu bekommen. Könnten Sie mir vielleicht einen Rat geben?“

Wie geht es nun weiter mit den Elgin Marbles? Das British Museum beruft sich darauf, deren rechtmäßiger Eigentümer zu sein. 2015 plante die griechische Regierung, diesen Anspruch vor einem internationalen Gericht prüfen zu lassen. Die Rechtsanwältin Amal Alamuddin – heute Amal Clooney –, eine Spezialistin für internationales Recht, besuchte Athen und bot an, Griechenland zu verteidigen. Ein Gutachten kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Erfolgsaussichten für Griechenland gering seien. Die Regierung nahm daraufhin von einem Engagement Alamuddins Abstand. Der Schauspieler schwärmte später, es seien auch die tiefgründigen Gespräche mit ihr über die Marbles gewesen, die ihn an seiner zukünftigen Frau fasziniert hätten. Was ihn nicht davon abhielt, die Kunstwerke in einer Pressekonferenz in Berlin mehrmals als Pantheon-Marbles zu bezeichnen.

Lange konnte Großbritannien darauf verweisen, dass Athen keinen würdigen Standort für die Kunstwerke besaß. Am 20. Juni 2009 eröffnete in Athen indes das neue Akropolis-Museum – ein Vermächtnis der kämpferischen Melina Mercouri. Die lichtdurchfluteten Hallen aus Beton, Glas und Marmor nach einem Entwurf des Schweizer Architekten Bernard Tschumi machte diesen Einwand obsolet. Tschumi installierte auf dem Dach des Museums eine eigene Galerie, welche die Dimensionen der Cella des Parthenon-Tempels nachahmt. An ihm wurde die griechische Hälfte der Kunstwerke angebracht. Die Lücken wurden durch Gipfsabgüsse Londoner und anderer Originale ergänzt. Die sind an ihrer strahlend weißen Farbe zu erkennen, während die Originale mit Patina überzogen sind.

Warum Athen das
Akropolis-Museum baute

Wer den Bilderzyklus je im Akropolis-Museum gesehen hat, dem erscheint es widersinnig, dass ganze Szenen zerrissen sind zwischen Athen und London: Pferd und Reiter in London, die Vorderbeine des Pferdes in Athen (und umgekehrt), die Köpfe in Athen, ihre Körper in London, ein männlicher Torso bis zur Brust in Griechenland, seine Schulter in England. Die Griechen versäumen es nicht, auf diesen Missstand hinzuweisen. Das Akropolis-Museum versteht sich ebenso als ein Ort der Anklage wie der Kunstvermittlung und der Wissenschaft.

Inzwischen ist bekannt, dass die Briten nicht so sorgfältig mit den Skulpturen umgegangen waren, wie sie es von sich behaupteten. Joseph Duveen, der schwerreiche Galerist, der die Galerie für die Parthenon-Skulpturen in den 1930er Jahren finanzierte, war nämlich kein Freund bräunlicher Patina. Er träumte davon, die antiken Kunstwerke rein, weiß und klassisch zu erleben. In Wahrheit waren sie wohl bunt bemalt, so wie es seit 1868 auf dem Gemälde Phidias Showing the Frieze of the Parthenon to his Friends (Birmingham Museum) des Historienmalers Lawrence Alma-Tadema zu sehen war.

1938 und 1939 verschaffte Duveen eigenen „Restauratoren“ Zugang zu den Marbles. Erst 1998 brachte der britische Historiker William St. Clair ans Licht, dass diese Putzteufel nicht zimperlich mit den Schätzen umgingen: „Hämmer, Meißel, Kupferstangen, Schaber, Drahtbürsten seien zum Einsatz gekommen“… „Man fand auch heraus, dass die Arbeiter Karborundum verwendeten, ein künstliches Schleifmittel, das zu jener Zeit neben Diamant die härteste bekannte Substanz war“, ereiferte sich St. Clair. Das British Museum berief eilig eine Konferenz ein, um die Gemüter zu beruhigen. Auf der redeten britische Forscher die Schäden klein, während die griechische Delegation sie skandalisierte. Die ohnehin gereizte Stimmung zwischen den Parteien drohte vollends zu kippen, als ein britischer Zeitungskommentar schrieb, es sei undenkbar, die Meisterwerke einem Volk zu überlassen, dass nach Jahrhunderten türkischer Besiedlung nur noch wenig mit den Griechen des perikleischen Zeitalters gemein hätte.

Das Akropolismuseum eröffnete 2009 in Athen. Foto: Acropolis Museum

Von seiner Überzeugung, rechtmäßiger Besitzer der Kunstwerke zu sein, ist das British Museum nie abgerückt. Zu Leihgaben ist man bereit, aber die kann es sinnigerweise nur unter der Voraussetzung geben, dass die griechische Regierung das Eigentumsrecht des Trustee-Kuratoriums an den Parthenon-Skulpturen anerkennt, andernfalls könnte Griechenland etwa Leihgaben nicht mehr hergeben. Ein solches Entgegenkommen Griechenlands ist nicht in Sicht. Die Frage ist daher, wie sich der aktuelle Vorsitzende des Eigentümerkuratoriums, George Osborne, die von ihm angekündigte Einigung mit Griechenland vorstellt. 

Außerdem bleiben die Briten dabei, dass die Einbettung der Parthenonskulpturen in das ästhetische Konzert anderer Weltkulturen eine wichtige Ergänzung zur Präsentation in Athen sei, wo das Parthenon als Nationalheiligtum gefeiert werde. In einer offiziellen Erklärung der Trustees heißt es: „Das Akropolismuseum ermöglicht es, die Parthenon-Skulpturen, die sich in Athen befinden (etwa die Hälfte der aus der Antike erhaltenen Skulpturen), vor dem Hintergrund der athenischen Geschichte zu betrachten. Die Parthenon-Skulpturen in London sind eine wichtige Darstellung der antiken Athener Zivilisation im Kontext der Weltgeschichte. Jedes Jahr bewundern Millionen von Besuchern bei freiem Eintritt die Kunstfertigkeit der Skulpturen und erhalten einen Einblick in die Art und Weise, wie das antike Griechenland die anderen Zivilisationen, denen es begegnete, beeinflusste – und von ihnen beeinflusst wurde. Die Treuhänder sind der festen Überzeugung, dass die Aufteilung der Skulpturen auf zwei große Museen, die jeweils eine ergänzende, aber unterschiedliche Geschichte erzählen, von Vorteil ist und der Öffentlichkeit nützt.“

Steht Weltkultur gegen
nationales Denken?

Doch wer trifft am Ende die Entscheidung darüber, ob die Elgin Marbles gehen oder bleiben? Alle Augen richteten sich zuletzt auf Noch-Premier Johnson, den Philhellenen. Der wollte dann wohl doch nicht als der Regierungschef in die Geschichte eingehen, der ein Jahrhundertwerk des British Museum weggeschenkt hat. Nach Konsultationen mit Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis im November 2021 schob er den Trustees des Museums den Schwarzen Peter zu. Sie allein entschieden als Eigentümer der Kunstwerke des British Museum über die Zukunft der Elgin Marbles. Das war nur die halbe Wahrheit.

Das Gremium, das aus Altertumswissenschaftlern wie Mary Beard und Chris Gosden und hochrangigen Wirtschaftsleuten besteht, ist zwar rechtlich Eigentümer der Werke, es ist jedoch an den British Museum Act von 1963 gebunden. Der schreibt vor, dass die Trustees ein Objekt nur dann verkaufen, tauschen oder verschenken dürfen, wenn dieses in den Sammlungen dupliziert wird – was immer das heißt – oder sich nicht für die Aufbewahrung in den Sammlungen eignet. Wenn das Museum, wie im Fall der Parthenon-Skulpturen, absolut sicher ist, dass es den Rechtsanspruch auf ein Objekt besitzt, wäre es für die Trustees sogar rechtswidrig, der Rückgabe eines solchen Objekts an ein anderes Land zuzustimmen.

In Wahrheit kann nur das Parlament durch Erlass von Primärrecht beschließen, dass ein Objekt aus den Sammlungen des Museums an ein Herkunftsland zurückgegeben werden muss. Womit der Ball in der Politik liegt.

Die Repatriierer lassen indes nicht locker. Ein in Dubai ansässiges Institut für Digitale Technologie (IDA) wirbt aktuell in London damit, die Elgin Marbles unter Verwendung von echtem pentelischem Marmor bis auf den letzten Millimeter nachzubilden. London, so die Initiatoren, könne dann die Nachbildungen zeigen, Athen die Originale erhalten. Das Argument ergibt jedoch auch umgekehrt Sinn: Ebenso gut könnte das Akropolis-Museum, das ohnehin bereits mit Kopien arbeitet, sie durch die noch feineren Replikate ersetzen und die Originale, die in London ohne Ergänzungen ausgestellt werden, könnten an ihrem Standort bleiben.

Das neue Akropolismuseum in Athen zeigt die ganze Bildgeschichte des Parthenon-Frieses. Eigene Originale (mit sichtbarer Patina) ergänzte es dafür um Gipsabdrücke von Originalen aus aller Welt. Foto: Acropolis Museum

Die Fronten in der Debatte haben sich verhärtet: Die Ägyptologin Eleni Vassilika, ehemals Direktorin des Roemer- und Pelizaeus-Museums Hildesheim, spielt die Karte der Identitätspolitik und fordert, dass jede Gemeinschaft ein Eigentumsrecht an seinem eigenen Kulturerbe habe. Aber hätte das nicht zur Folge, dass es irgendwann nur noch National-, Regional- und Stammesmuseen gäbe? Genau darin sieht der Archäologe Mario Trabucco della Torretta eine Gefahr. Es sei schlimm genug, schreibt er, dass „auf den Spuren Leo von Klenzes“ der heilige Fels der Akropolis von allen Spuren der Geschichte gesäubert werde, an die Griechenland sich nicht erinnern wolle. Dazu gehörten Jahrhunderte türkischer Herrschaft, aber auch christliche, fränkische und venezianische Spuren. Auch warnt er davor, zurückzukehren zu einer „athenozentrischen Sicht auf die griechische Welt“, von der sich Archäologen und Klassizisten gerade „befreiten“. Diese Sichtweise sei „ein historiografisches Konstrukt, das durch eine voreingenommene Auswahl der schriftlichen Quellen, die das Mittelalter überlebt haben, entstanden ist“. Mit ihr wollten „die Repatriierungstäter und die griechische Regierung, dass wir den Parthenon als Inbegriff einer ganzen Zivilisation betrachten.“ 

Voller Emphase fordert Trabucco della Torretta: „Entscheiden wir uns, Aristoteles folgend, für die historische Wahrheit statt für eine gefühlsbetonte Freundschaft. Tauchen wir ein in die erstaunlichen Geschichten – unsere Geschichten –, die uns die Elgin Marbles nur in Bloomsbury erzählen können. Zu erklären, dass sie nur Steine ohne Wert für uns sind und sie nach Athen zu schicken, würde nur die Bestie der Ideologie und des nationalistischen Mythos füttern.“ 

Eine andere Frage ist, ob sich die Trustees von den Restitutionen der letzten Monate beeindrucken lassen: von der kleinen sizilianischen oder der großen deutschen, die darin bestand, das Eigentumsrecht an Benin-Bronzen in deutschen Ausstellungshäusern auf Nigeria zu übertragen. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass das British Museum sein Eigentumsrecht an den Elgin Marbles, von dem es überzeugt ist, preisgibt. Und kann von einem großartigen Museum erwartet werden, dass es sich freiwillig selbst enteignet? Andere Museen, die Kunst vom Parthenon besitzen, dürften die Entwicklung der Kontroverse aufmerksam verfolgen. Ob Lord Elgin oder Lord Byron Recht behalten werden, ist noch lange nicht entschieden.

© Holger Christmann