Interview

Reinhold Messner: „Es ist wichtig, den eigenen Weg zu gehen“

In unserem Exklusiv-Interview spricht der Extrembergsteiger und Grenzgänger über sein Leben als Selbstversorger, seine internationalen Projekte und sein Geheimnis für ein glückliches Leben.

VON HOLGER CHRISTMANN
5. August 2021
Reinhold Messner mit Flint, dem Jack-Russell-Terrier, den Diane Schumacher in die Ehe mitbrachte. Am Handgelenk trägt Messner eine Uhr, die ihm Montblanc gewidmet hat: Die neue 1858 Geosphere Limited Edition erinnert an Messners Expedition in die Wüste Gobi. Foto: Montblanc

Für viele ist Reinhold Messner der größte Bergsteiger aller Zeiten. Der Südtiroler, Jahrgang 1944, bestieg zusammen mit dem Tiroler Peter Habeler 1978 als erster Mensch den Gipfel des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff. Zwei Jahre später erklomm er den mit 8849 Metern (nach neuer Messung) höchsten Punkt der Erde im Alleingang. Bis 1986 hatte Messner alle vierzehn Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen und auf allen Kontinenten die höchsten Gipfel, die Seven Summits, bezwungen. Es folgten Expeditionen durch die Antarktis (1989/90), durch Grönland (1993) und die Wüste Gobi (2004). Er verfasste zahlreiche Bücher von oft hoher literarischer Qualität, und gründete in Südtirol und Venetien gleich mehrere Messner Mountain Museen. Nach wie vor reist er viel: um Bergvölker kennenzulernen, um von Nepal und Äthiopien und bis zu den Anden Projekte zu fördern, um Vorträge zu halten und Filme zu drehen. In der Pandemie ging es dem ruhelosen Grenzgänger nicht anders als dem Rest der Welt: Auch er saß in heimatlichen Gefilden fest, auch wenn er auf seinem Wohnsitz Schloss Juval bei Meran von den geliebten Dolomiten umgeben war. Doch nach einem Jahr Ausharren stehen auch für ihn die Zeichen auf Aufbruch. In unserem Exklusiv-Interview spricht Reinhold Messner über die Tournee, die er plant, um weltweit für nachhaltigen Alpinismus zu werben, über ein neues Buch, das er in der Pandemie verfasste, über das Geheimnis eines glücklichen Lebens und über sein ganz privates Glück mit Diane Schumacher, der Frau, der er Ende Mai das Jawort gab. 

Die Bergsteigerlegende Reinhold Messner, aufgenommen am Hauptsitz der Uhrensparte von Montblanc im schweizerischen Villeret. Foto: Montblanc

Holger Christmann: Wo erreiche ich Sie gerade? 

Reinhold Messner: In Juval in Südtirol, in meiner eigenen Burg. 

Holger Christmann: Wohnen Sie direkt in der Burg? 

Reinhold Messner: Ich wohne seit gut eineinhalb Jahren in der Burg. Vorher verbrachte ich im Sommer zwei Monate hier und den Winter immer in Meran. Ich habe mir jetzt in der Burg die oberste Etage winterfest gemacht. So ein Gebäude kühlt im Winter aus und wird erst im Mai wieder bewohnbar. Es bleibt dann angenehm bis in den November, weil die dicken Mauern die Wärme speichern. Danach wird es kalt. Die Burg Juval steht ja sehr exponiert auf einem Felsen. 

Holger Christmann: Sie leben auf Schloss Juval als Selbstversorger. Wie hat man sich das vorzustellen?  

Reinhold Messner: Wir haben einen Bauernhof mit Tieren und Gärten. Um die Kräuter- und Gemüsegärten kümmern sich der Hausmeister und seine Frau. Die Bewirtschaftung des Viehhofs habe ich verpachtet, mit der Auflage, dass wir uns von dort mit Nahrungsmitteln versorgen können. Wir können nicht zu zweit einen Bauernhof führen, wenn wir weiter für Aufträge, Vorträge und Diskussionen unterwegs sein wollen. Es ist jedenfalls schön, das alles zu verantworten. Wenn morgen eine viel schlimmere Krise kommt als die Corona-Pandemie, und das ist nicht ausgeschlossen in den nächsten Jahrzehnten, kann sich ein ganzer Clan hierher zurückziehen, und je mehr Leute mit anpacken können, desto mehr können davon leben. 

Holger Christmann: Sie produzieren auch Wein. Wie macht der sich?  

Reinhold Messner: Unsere Reben stehen im steilen Hang des Juvaler Hügels auf 600 bis 850 Höhenmetern. Das Weingut habe ich meinem Sohn Simon vererbt. Er hat es an Gisela und Martin Aurich verpachtet. Wir produzieren vor allem Müller-Thurgau und Riesling. Mit dem Riesling Windbichel sind wir besonders erfolgreich. Er steht mit drei Gläsern im Weinführer Gambero Rosso. Das ist in Italien die höchste Auszeichnung. 

Reinhold Messner und Diane Schumacher 2020 im indischen Jaipur. Foto: privat

Holger Christmann: Die Pandemie hat sicher auch Ihr Leben eingeschränkt. Welche Auswirkungen hatte der Lockdown auf ihren Alltag? 

Reinhold Messner: Vor der Pandemie waren Diane und ich drei Wochen unterwegs: zuerst in Bhutan, Nepal und Myanmar, Letzteres ein Land, das man seit der Machtübernahme der Militärs ja kaum mehr bereisen kann. Anschließend waren wir in Äthiopien, wo ich für meine Studien über Bergvölker einen Volksstamm in den Simsien Mountains besuchte. Dann kamen wir zurück und hatten eine riesige Vortragsserie vor uns. Nach vier Vorträgen mussten wir die Tour wegen des Lockdowns abbrechen. Ich habe dann gemeinsam mit Diane die Zeit hier in Juval und in München verbracht.

Holger Christmann: Was hat uns die Pandemie gelehrt? 

Reinhold Messner: Sie hat uns gezeigt, dass wir ein relativ schwaches Glied in der Natur sind.

Holger Christmann: Sie betreiben in Südtirol und Venetien ein halbes Dutzend Museen, die Messner Mountain Museen. Wie sind die durch die Krise gekommen?

Reinhold Messner: Der Sommer 2019 war erfolgreich wie immer. Aber seit dem Ausbruch der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen im Tourismus waren die Museen drei Viertel der Zeit geschlossen. Das heißt, wir hatten Ausgaben, sehr hohe sogar, und keine Einnahmen.

Holger Christmann: Wurden die Museen vom italienischen Staat unterstützt? 

Reinhold Messner: Bisher nicht. Wir konnten wie in Deutschland Kurzarbeit anmelden. Aber das Kurzarbeitergeld der staatlichen Sozialversicherung wurde bis heute nur teilweise ausgezahlt. Ob der ausstehende Rest irgendwann kommt, weiß niemand. Gleichzeitig dürfen wir keine Mitarbeiter entlassen. Das hat die italienische Regierung verboten. Wir schießen also seit Monaten die Löhne vor. 

Holger Christmann: Das klingt besorgniserregend. Wie lange können die Museen noch durchhalten? 

Reinhold Messner: Die Museen gehören nicht mehr mir. Ich habe sie auf dem Erbschaftsweg an meine große Tochter Magdalena weitergegeben. Ich habe Magdalena neulich gefragt: Wie lange halten wir noch durch? Sie hat gesagt, noch überlebe sie, aber nicht mehr lange. Wenn die Museen wieder geöffnet sind, werde ich mich einbringen. Ich werde zum Beispiel die Gespräche am Lagefeuer wieder aufnehmen. Das ist in diesem Sommer eine meiner Aufgaben. 

Holger Christmann: Sie hoffen, dass die Touristen zurückkehren? 

Reinhold Messner: Es ist absolut notwendig, dass wir in Südtirol wieder Tourismus haben. 

Anarchischer Kampf mit der Natur: Reinhold Messner 1978 an der Lhotse-Flanke des Mount Everest. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: In Ihrem letzten Buch „Gehe ich nicht, gehe ich kaputt. Briefe aus dem Himalaja“ (2020) setzten Sie sich kritisch mit dem Massentourismus auseinander. Sie beklagen nicht zum ersten Mal den Betrieb am Mount Everest und an anderen Achttausendern: den Gänsemarsch-Tourismus inklusive stundenlangem Schlangestehen auf 8 000 Meter Höhe. Dazu gehört eine Infrastruktur mit Essensversorgung per Heli und Sauerstoffdepots für erschöpfte Alpinamateure.

Reinhold Messner: Sie können heute die Everest-Pauschalreise – Gipfel und zurück – buchen. Der Weg zum Gipfel wird so präpariert, dass man relativ sicher hinaufkann. Die Arbeit machen die Einheimischen, die Sherpas. Die verdienen damit ihr Geld und ernähren damit ihre Familien. Das ist nicht nur zu kritisieren, sondern Tatsache. Was ich kritisiere, ist der Massentourismus. Die Sherpas präparieren eine Piste bis zum Gipfel, einen Weg auf hartem Schnee. Dabei riskieren sie nicht selten ihr Leben. Links und rechts davon befestigen sie Seile, damit ihre Kunden nicht vom Weg abkommen. Wenn die Piste fertig ist, wird ein Wetterfenster abgewartet, dann steigen Hunderte aus siebentausend Metern mit Sherpa-Hilfe auf. Es ist schon passiert, dass ein Begleiter die Sauerstoffflasche trägt und einen Schlauch zum Klienten legt, der hinter ihm läuft und den Flaschensauerstoff einatmet. In jedem Lager warten Köche, Küchenjungen und Ärzte. Das ist ein teurer Spaß. Die Preise für solche Expeditionen betragen 40 000 bis 100 000 Dollar pro Person. Dennoch bleiben auch diese Touren gefährlich. Besonders brenzlig wird es, wenn zweihundert Leute in einer Schlange in der Todeszone vor dem Gipfel warten. Seit Mai sind wieder solche Gruppen unterwegs. Einer der Organisatoren postete im Netz: ,Es ist großartig, das eigene Helipad im Basislager zu haben‘. Dass man den Helikopter mitbenutzt, um einen Berg zu besteigen, ist wirklich ein Sakrileg. Das hat mit Alpinismus nichts mehr zu tun. Sie haben heute im ganzen Tal einen Hubschrauberlärm ohnegleichen, weil die Hubschrauber ununterbrochen rauf- und runter fliegen und Essen auf sechstausend Meter transportieren. Vier Landeplätze gibt es inzwischen im Basislager.

„In Kathmandu
wurde jede
Sauerstoffflasche
gebraucht“

Holger Christmann: Sie beschreiben auch, wer alles den Mount Everest besteigt. Einige wollen sich vor allem im Guinness-Buch der Rekorde verewigen.

Reinhold Messner: Ich traf mal an einem Tag die jüngste Everest-Mannschaft – Durchschnittsalter 16 Jahre – aus Indien, den ältesten Gipfelaspiranten mit 82 Jahren aus Nepal, Miura mit 80 Jahren aus Japan und einen Nepali aus Kanada ohne Arme, der seine Karriere auf dem Gipfelgang aufbauen will. Wenn die Medien aufhören, diesen Leuten ein Lob auszusprechen, werden andere womöglich damit aufhören. Mit Alpinismus hat das nichts mehr zu tun. Jüngst kam hinzu: Im Mai wurde in Kathmandu jede Sauerstoffflasche für die Corona-Patienten gebraucht. Oben am Berg lagen sie zu Tausenden herum, vorbereitet für die Aufstiege.  

Holger Christmann: Die Sherpas haben durch den Gipfeltourismus ihren Lebensstandard verbessert. Kann man es ihnen verübeln, dass sie an den reichen Kunden, die längst nicht mehr nur aus dem Westen, sondern auch aus China und Indien kommen, verdienen? 

Reinhold Messner: Ja, die Sherpas sind zum Teil wohlhabend geworden. Die reichsten Nepalesen sind heute  Sherpas. Einige haben Fluglinien aufgebaut. Sie haben die Touristen aus Südkorea und Japan mit dem eigenen Flieger abgeholt. Ich sehe es gern, wenn die Sherpas durch den Tourismus zu Wohlstand kommen. Ich bin nur gegen den Gipfeltourismus um jeden Preis mit der gigantischen Unterstützung, die rundherum aufgebaut wird. 

Holger Christmann: Sie prangern den Overtourism im Himalaya schon lange an. Offenbar mit wenig Erfolg.

Reinhold Messner: Sir Edmund Hillary und ich waren einst beim König von Nepal, als es das Königreich Nepal noch gab. Wir schlugen ihm vor, dass man es handhabt wie früher: In jeder Saison sollte eine Expedition an jeder Route erlaubt sein, nicht unbegrenzt viele. Der König erwiderte, das werde nicht durchgehen. Ein Bergsteiger zahlt 10 000 Dollar für die Genehmigung. Wenn man tausend Leute hernimmt, sind das 10 Millionen Dollar. Das ist für Nepal relativ viel Geld. Dann brauchen die Bergsteiger Unterkunft, Verpflegung, Helfer bis ins Basislager. Das ist Geld, das Nepal gut gebrauchen kann. 

Den höchsten Berg der Welt bezwang er gleich mehrmals: Reinhold Messner 1978 auf dem Gipfel des Mount Everest. Foto: Archiv Reinhold Messner
1978 bezwang Messner im Alleingang den Nanga Parbat. Der Berg gilt als Schicksalsberg der Deutschen. 1970 hatte Messner auf dem Weg zum Gipfel seinen Bruder Günther verloren. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Der Nepalese Nirmal Purja, ein ehemaliger Elitesoldat der britischen Ghurka-Brigade und der Special Forces, hat 2019 vierzehn Achttausender in sieben Monate erklommen. Übernehmen jetzt die Nepalesen das Zepter von westlichen Rekordhaltern wie Ihnen? 

Reinhold Messner: Das ist ein interessanter Fall. Die Ghurkas, die von der britischen Armee aus verschiedenen Bergvölkern Nepals rekrutiert wurden, gelten als besonders mutig und sie sind besonders höhentauglich. Sie werden eingesetzt, wenn’s wirklich hart auf hart geht, etwa im Falkland-Krieg. Angeblich kämpfen sie sogar mit ihren Khukuri-Messerschwertern. Dieser Ghurka entschied sich, aus dem Militär auszutreten, auf seine Pension zu verzichten und in sieben Monaten vierzehn Achttausender zu besteigen. Er finanzierte das Projekt mit Spenden. Auch ich habe ihn unterstützt. Zuletzt bestieg er mit neun Sherpas als erster den K2 im Winter – und bewies damit, dass Nepalesen diese Art des Bergsteigens besser beherrschen als Westler. Im Klettern von schwierigen Wänden sind wir Westler ihnen noch voraus, das wird aber auch noch kommen. Jetzt ist Nirmal Purja sehr erfolgreich. Und natürlich will er mit seinem Ruhm Geld verdienen.

Er war auch in der Todeszone mit leichtem Gepäck und ohne schwere Sauerstoffflaschen unterwegs: Reinhold Messner 1978 auf seiner Solotour zum Nanga Parbat. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Wie könnte man den Gipfeltourismus begrenzen und trotzdem den Nepalesen ermöglichen, Wohlstand zu erwirtschaften? 

Reinhold Messner: Indem man nicht allein auf die Gipfel fixiert ist. Früher waren die meisten Touristen Trekker, die zum Basislager und zurück wanderten. Die brachten das Geld. Bergsteiger gab es nur wenige. Heute ist es umgekehrt. Dass Menschen in Nepal auf 5 000 bis 6 000 Metern wandern gehen und so die einzigartige Natur und Kultur des Himalayas kennenlernen, das ist gut. Ich habe ein ganzes Museum eingerichtet, dass sich mit den Bergkulturen befasst. Ich bin überzeugt: Wenn der Everest sein Flair als großer schwieriger Berg zurückgewinnt, werden mehr Trekker kommen und den Berg vom Basislager aus bestaunen. Einige Gruppen könnten jeweils an einer Route den Berg besteigen. Es gäbe dann auch weniger Hubschrauberlärm. Das wäre nachhaltiger Tourismus. Ich würde mir wünschen, dass die Sherpas selbst die Vorteile einer Limitierung erkennen. Wenn Tourismus als Massentourismus auftritt, wird er schädlich.

„Final Expedition
ist eine Hommage
an den traditionellen
Alpinismus“

Holger Christmann: Was verbirgt sich hinter Final Expedition? Sie sagen, Sie wollen mit dieser Veranstaltungsreihe für traditionellen Alpinismus werben.

Reinhold Messner: Final Expedition ist eine Veranstaltungsreise rund um die Welt, wobei ich mit Diskussionen, Filmen, Vorträgen erzählen möchte, mit welcher Haltung traditionelle Alpinisten in die Berge gehen. Final Expedition ist eine Hommage an den traditionellen Alpinismus. Wir wollten diese Reihe eigentlich im Sommer 2020 in Australien und Neuseeland beginnen und die Tournee in Europa fortsetzen. Ich sehe Bergsteigen als Teil unserer Kultur, als eine Art kulturelles Erlebnis, nicht nur als eine Sache des Abenteuers. Über den traditionellen Alpinismus habe ich in der Pandemie ein neues Buch geschrieben. Es geht dabei nicht um Ethik, nicht um Moral, es geht um Haltung. Wir gehen als traditionelle Alpinisten in eine archaische Welt hinein, wir agieren nach anarchischen Mustern. Es gibt keine Gesetzgebung, wenn ich auf einen Achttausender steige. Wenn ich mit zwei Kameraden über eine neue Route auf den Everest steige, haben wir vollkommene Freiheit. Wir haben nur die Naturgesetze zu respektieren. Mache ich einen großen Fehler, bin ich tot. Die Natur fällt mein Todesurteil. Im Grunde gibt es keine stärkere Auseinandersetzung: hier die Menschennatur, dort die Bergnatur. Wenn beide sich begegnen, passiert etwas in der Natur des Menschen. Die meisten Bergsteiger wissen sehr genau, was traditionelle Alpinistik ist, und das werde ich erzählen, bevor ich die ewigen Schneefelder aufsuche. 

Der junge Mann und der Berg: Messner 1973 am Tomaselli-Klettersteig in den Dolomiten. Messner fordert, dass sich Bergsteiger im Himalaya wieder der Natur aussetzen anstatt eine gewaltige Infrastruktur zu beanspruchen, um den Gipfel zu erreichen. Foto: Archiv Reinhold Messner
Reinhold Messner 1981 an den Cinque Torri in den Dolomiten. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Früher war aber nicht alles besser. Sie kritisieren den Führungsstil im traditionellen Alpinismus. 

Reinhold Messner: Das gilt vor allem für das Bergsteigen in Deutschland in den dreißiger Jahren und in der Nachkriegszeit. Ich habe das in meinem Buch „Der Eispapst: Die Akte Welzenbach“ hinterfragt. Der Münchner war der wichtigste deutsche Bergsteiger der Zwischenkriegszeit und kam 1934 am Nanga Parbat ums Leben. In den dreißiger Jahren galt auch beim Bergsteigen in Deutschland das Führerprinzip. Nach dem Zweiten Weltkrieg, das hab ich noch erlebt, führten sich Expeditionsleiter auf, als wären sie Generäle. Das kann beim Bergsteigen nicht funktionieren. Die Engländer haben ihre Teams von Anfang an demokratisch geführt. Es gab keinen Chef, sondern gleichberechtigte Mitglieder einer Seilschaft. Wenn etwas zu tun war, war einer da, der die Aufgabe freiwillig erledigte, ohne dass ihm das befohlen wurde. Zum Führerprinzip gehörte ja auch die sogenannte „Kameradschaft bis zum Tod“, was ein Widersinn ist. Wenn ich sehe, mein Partner ist leider tot, darf ich wohl trotzdem versuchen, mein eigenes Leben zu retten. In den dreißiger Jahren wurde das in Deutschland als Verbrechen angesehen. 

Holger Christmann: Wen bewundern Sie unter den Pionieren des Bergsteigens?

Reinhold Messner: Wenn ich im 19. Jahrhundert beginne: Der deutsche Naturforscher Hermann von Schlagintweit war eine interessante Figur. Er korrespondierte aus Indien und Nepal mit Alexander von Humboldt. Der spannendste von allen war der britische Alpinist Albert Frederick Mummery. Er bezwang sieben Mal den Gipfel des Matterhorns. 1895 versuchte er als Erster, mit dem Nanga Parbat einen Achttausender zu besteigen (Dabei kamen Mummery und zwei einheimische Begleiter ums Leben, Anm. d. Red.). Generell sieht man, dass all diese Männer schreiben konnten. Wenn Mummery in einem Brief seiner Frau verspricht: „Ich werde mein Bestes dransetzen, Dir den Gipfel des Nanga zu Füßen zu legen“, dann ist das Literatur. 

Reinhold Messner 1976 an den Cirspitzen oberhalb des Grödnerjochs. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Wie verschickte man eigentlich Briefe aus dem Himalaya? 

Reinhold Messner: Die Briefe wurden von Sherpas vom Basislager zur nächsten Poststelle gebracht. Wenn ich höher hinaufstieg, dauerte es eine Woche, bis ich zurückkam. Dann nahm ich die Korrespondenz, die ich auf dem Berg geschrieben hatte, mit ins Basislager. Dort gab es einen Postläufer, der zwei Wochen brauchte, um nach Kathmandu zu laufen. Wenn man einen Monat vor Heimreise einen Brief schrieb, kam man meistens vor ihm zuhause an.

Holger Christmann: Heute kommuniziert jeder übers Mobiltelefon? 

Reinhold Messner: Ja. Viele sogenannte Bergsteiger kündigen ihre Heldentaten im Netz nur an, konkrete Grenzgänge bleiben dann aus.

„Ich wurde Opfer
einer Kolportage“

Holger Christmann: Unter den Briefen ist auch der letzte Brief von Ihnen und Ihrem Bruder Günther aus dem Rupaltal am Nanga Parbat. Er datiert auf den 16. Juni 1970. Wenige Tage später verloren Sie ihren Bruder am Nanga Parbat. Belastet Sie dieser Verlust noch?

Reinhold Messner: Ja, er beschäftigt mich noch. Mein Bruder ist zwar gefunden worden – 35 Jahre nach dem Unfall – die Rufmordkampagne dazu geht aber weiter. Ich wurde das Opfer einer Verschwörungstheorie, und auch Qualitätsmedien in Deutschland saßen den Kolporteuren auf. Der Expeditionsteilnehmer Max-Engelhardt von Kienlin zum Beispiel gab den Medien damals absichtlich falsche Informationen. Sein angeblicher Tagebucheintrag, der nahelegt, ich hätte mich fahrlässig verhalten, war rein erfunden. Den hat er sich im Nachhinein ausgedacht. Niemand hat das wirklich recherchiert. Ich bin mehr als enttäuscht von den Printmedien, auch vom Spiegel, der sich bis heute nicht für seine falsche Darstellung entschuldigte. Es gab übrigens nur eine Zeitung, die sich korrigierte, als man Günthers Leichnam fand und ich damit entlastet war, das war Bild.

Holger Christmann: Der Alpenverein stellte sich damals gegen Sie. Gab es zwischen Ihnen und dem Verein eine Aussöhnung? 

Reinhold Messner: Auch der Alpenverein korrigierte seine Position von damals bis heute nicht. Obwohl jetzt Gespräche laufen. Im Münchner Alpenvereinshaus nahm ja die Verschwörungstheorie ihren Anfang. Es gab damals eine große Pressekonferenz, an der ich nicht teilnehmen konnte, weil ich eine Expedition nach Franz-Josef-Land im Nordpolarmeer leitete, die ich nicht absagen konnte. Ich erinnerte daran, dass der Alpenverein ja Erfahrung mit Ausgrenzung hatte. Schon 1924 schloss er Juden aus dem Verein aus, als eine Art Vorläufer der Nazis von 1933. Mir wurde daraufhin jede Plattform in diesem Verein entzogen.

Holger Christmann: Zur Ehrenrettung des Alpenvereins muss man sagen, dass er den antisemitischen Teil seiner Geschichte kritisch aufgearbeitet hat.

Reinhold Messner: Dr. Helmuth Zebhauser hat hier gute Arbeit geleistet (Autor von „Alpinismus im Hitlerstaat“, Anm. d. Red.). Er war leider bei der Veranstaltung – einer Art modernem Hexenprozess gegen mich – nicht anwesend. Meine Warnung im Vorfeld wurde in den Wind geschrieben. 

Holger Christmann: Kehren wir zurück zum Thema des Overtourism. Sehen Sie den in den Alpen?

Reinhold Messner: Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Südtirols. Ich bin ja mit den Messner Mountain Museen selbst Touristiker. Wenn die Menschen sich in Südtirol oder in den Alpen verteilen, dann haben alle Platz. Wenn alle den Influencern nachlaufen, wird das zum Problem. Ein Beispiel ist die Johanneskapelle in Villnöss an den Geislerspitzen. X-mal warb der Südtiroler Fremdenverkehr mit dieser Szenerie. Influencer kamen und fotografierten die Kirche, jetzt stauen sich dort die Autos, weil alle die Kirche sehen wollen. Die Leute fahren aber nur ins Tal hinein und hinaus. Sie tanken, schlafen, essen dort nicht. Das ist nicht nachhaltig. Wenn die Villnösser stolz auf ihre vielen Touristen verweisen, sage ich: „Und was bringen die? Nichts.“ Wenn ich das kritisiere, schütteln die Verantwortlichen den Kopf. Tourismus wird aber erst effizient und wirtschaftlich interessant, wenn die Touristen zum Stillstand kommen, wenn Menschen einen Ort erkunden, dort schlafen, essen, einkaufen und sich begegnen. Wenn in Südtirol zuletzt auf der Hütte und unter dem Gipfelkreuz kein Platz mehr ist, werden jene Werte weg sein, die vorher touristisch angepriesen wurden. 

„Upcycling ist besser
als Abreißen“

Holger Christmann: Sie planen gerade selbst eine touristische Expansion mit einem neuen Museum. 

Reinhold Messner: Ich wollte das Felsenmuseum vom Monte Rite in Venetien nach Südtirol holen. Meine Idee hat die Hürden in der Landesregierung zweimal gerissen. Ich würde das MMM Dolomites gern als reines Dolomiten-Museum weiterführen und zusätzlich ein neues Felsenmuseum in Südtirol einrichten. Ich habe einen phantastischen Ort gefunden, die stillgelegte Bergstation der Helmbahn in Sexten. Sie liegt auf mittlerer Berghöhe. Die Station hat riesige Betonfundamente und Gegengewichte, sie ist ein Monument der Industriegeschichte. Man müsste sie so umbauen, dass ich darin ein Museum einrichten könnte. Dafür müssten die Öffnungen, durch die die Bahnen ein- und ausfuhren, mit Glas verschlossen werden. Die Besucher hätten einen 180-Grad-Bergblick durch eine einzige Glasfront. Das Museum wäre international ausgerichtet, es würde vom Yosemite Valley genauso erzählen wie von den Picos de Europa in Spanien und von den Dolomiten. Bislang will die Landesregierung in Bozen jedoch, dass alle stillgelegten Bergstationen abzubauen sind. Ich sage: Wenn man die Betonfundamente und den Stahl aus dem Felsen reißt, sie ins Tal transportiert, dafür eine Straße ebnet, den Schutt und Sondermüll entsorgt, kostet das mehr als die Aufwertung des Gebäudes zu einem Museum. Upcycling ist besser als Abreißen – und ein Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Nirgends ließe sich ein besseres Beispiel für eine Zukunftsvision finden.

Eines der vielen Projekte, die Reinhold Messner unterstützt: Das neue Sherpa-Museum im nepalesischen Namche Bazar. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Wie ist der aktuelle Stand? 

Reinhold Messner: Die Gemeinde stellte zwei Anträge an das Land Südtirol, um das Upcycling der Helmbahn-Station zu erlauben. In einer Gemeinderatssitzung sprachen sich alle Mitglieder mit einer Enthaltung für unser Projekt aus. Ich hoffe, dass auch die Landesregierung zustimmt. Ich habe bei den anderen Museen gezeigt, dass ich ohne Subventionen auskomme. Die Messner Mountain Museen tragen sich selbst. Meine Tochter Magdalena hat in diesem Fall kein Vermögen, sondern eine große Verantwortung übernommen. Ich bin heute sowieso der Meinung, dass Menschen, die sich etwas angeeignet haben, in erster Linie Verantwortung tragen. So ist es auch mit meiner Burg. Gekauft habe ich sie aus Begeisterung. Heute überwiegt die Verantwortung, sie als Kulturgut zu erhalten. Jedes Jahr sind Restaurierungen nötig. Zuletzt haben wir die Zugbrücke ausbessern müssen. Dieser Einsatz im Sinne von Verantwortung hält natürlich auch jung. Nur herumsitzen und aufs Sterben warten, das würde mir nicht gefallen. 

Ein neues Museum
erzählt von
den Sherpas

Holger Christmann: Was wird aus Ihren Charity-Projekten in aller Welt? 

Reinhold Messner: Meine Stiftung unterstützt seit bald zwanzig Jahren Bergvölker. Ich habe rund um den Nanga Parbat vier Schulen gebaut und bezahle die Lehrer, soweit die Schulen noch nicht in den normalen Schulbetrieb in Pakistan integriert sind. Nach dem Erdbeben in Nepal von 2015 halfen wir, das einzige Hospital in der Everest-Region Solokhumbo wieder aufzubauen. Sir Edmund Hillary hatte es gegründet. Sir Hillarys Stiftung, Wolfgang Nairz aus Innsbruck und ich haben die Wiederinstandsetzung finanziert. Zusätzlich unterstütze ich ein neues Sherpa-Museum. Es erzählt, wer die Sherpas sind und welche Verdienste sie sich um das Bergsteigen erworben haben. Es wird vor Ort in Namche Bazar entstehen und vom Sherpa Lakpa Sonam betrieben. Der Eigentümer hätte das Gebäude beinah abgerissen, weil er nicht wusste, auf welchem Schatz er sitzt: auf einem der ältesten Sherpa-Häuser der Region! Er wollte es niederreißen und durch einen Neubau ersetzen. Wir haben das historische Gebäude in das Museum integriert. 

Wir werden in dem Museum auch erzählen, wo die Sherpas herkommen, die eine Völkerwanderung von dreitausend Kilometern am Nordrand des Himalaya entlang zurückgelegt haben. 20 000 Menschen überquerten mit Yaks einen sechstausend Meter hohen Pass. Sie waren auf der Flucht, man weiß aber nicht genau wovor, vermutlich vor religiöser Verfolgung. In Solokhumbo fanden sie eine neue Heimat. Das Wort Sherpa heißt übersetzt „das Volk aus dem Osten“. Ich habe ihr Herkunftsgebiet besucht. Dort stehen Häuser, wie sie die Sherpas in der Everest-Region bewohnen. Die Geschichte dieses Volkes hat viel mehr zu bieten als das Narrativ der Everest-Besteigungen.

Reinhold Messner beim Aufstieg zu den Altai-Höhen gegen Ende seiner Expedition durch die Wüste Gobi. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Interessieren Sie sich heute mehr für Menschen und Kulturen als früher? 

Reinhold Messner: Heute schiele ich nicht mehr auf die großen Gipfel, auch gezwungenermaßen. Ich könnte nicht mehr ohne Sauerstoffmaske auf den Everest steigen. Ich könnte auch keine schwierige Wand mehr klettern und will das auch nicht vortäuschen. Ich suche stattdessen im Himalaya und anderswo auf der Welt Gegenden auf, die ich noch nicht kenne. 

Holger Christmann: Sie kennen Nepal, Tibet, Indien und Pakistan und haben als einer der wenigen Ausländer die Front zwischen Indien und Pakistan in Kaschmir besucht. Wie bewerten Sie die Lage dort, auch den Einfluss von China und die Neue Seidenstraße? 

Reinhold Messner: Wir konnten auf Einladung der indischen Regierung die Demarkationslinie besuchen. Es gibt im Karakoroum keine Rohstoffe, die Konfliktparteien kämpfen um Felsen und Steine. Auf den Bergen liegen sich die Soldaten gegenüber und sind seit 1984 mehr oder weniger im Krieg. Es findet aktuell zwar kein Kriegsgeschehen statt, aber Soldaten sterben trotzdem, sei es durch Lawinen, Kälte oder Abstürze in Gletscherspalten. Mich erinnert das an den Ersten Weltkrieg in den Dolomiten. 

Zwischen grasenden Kamelen hindurch bahnt sich Reinhold Messner seinen Weg durch die Wüste Gobi.

Holger Christmann: Trotzdem war das Karakorum schon im 19. Jahrhundert umkämpft. Man sprach vom Great Game zwischen dem Zarenreich und Großbritannien. 

Reinhold Messner: Damals standen die Engländer im Süden und die Russen im Norden. Francis Younghusband, ein britischer Offizier und Forscher, unternahm 1903 einen Vorstoß, um nach Tibet zu gelangen. Damit begann die bergsteigerische Erschließung der Region. Younghusband rang dem Dalai Lama das Versprechen ab, dass Engländer die Ersten sein dürfen, die den Himalaya erkunden. Ich habe auch die Grenze zu China besucht. Ich glaube nicht, dass es zwischen Indien und China zum Showdown kommt. Ob Nepal oder Bhutan unter die Räder kommen, weiß ich nicht. Die Neue Seidenstraße ist ein unglaubliches Projekt. In Pakistan verlegt China Tunnels durch den ganzen Karakorum. Nicht für zehn Milliarden Euro wie beim Brennerbasistunnel, sondern für 100 Milliarden Euro. Was für Europäer und Amerikaner schwierig sein wird, ist die Tatsache, dass China sich überall, wo es investiert, ein Monopol auf die Bodenschätze sichert. Auch Tibet geben die Chinesen nicht auf, weil es sehr ressourcenreich ist.

Der Extrembergsteiger und Grenzgänger mit dem Tagebuch seiner 2 000 Kilometer langen Durchquerung der Wüste Gobi. Foto: Montblanc

Holger Christmann: Ein Thema, das im Moment jeden bewegt, ist der Klimawandel. Kaum jemand hat sich so vielen unterschiedlichsten Klimazonen ausgesetzt wie Sie. Nehmen Sie den Klimawandel wahr? 

Reinhold Messner: Man sieht, spürt ihn überall, auch hier in Südtirol. Früher reichte der Suldengletscher fast bis an den Rand der heutigen Almen. Heute brauche ich von dort mindestens eine Stunde, um zum Gletschertor zu gelangen, so weit hat es sich zurückgezogen. Wir sehen, dass die Bäume höher hinaufwachsen als früher. In den letzten zehn Jahren sind mehr große Brocken aus den Bergwänden herausgebrochen als in den hundert Jahren vorher. Als ich jung war, habe ich nur alle paar Jahre in den Dolomiten eine Wand gesehen, aus der ein Felsen herausgefallen war. Diese Stellen erkennt man an den Farben, am Geröll sowie an den Felsen am Fuß der Wände. Wenn ich demnächst wieder in die Dolomiten gehe, werde ich Dutzende von Ausbrüchen sehen, manche groß wie Wolkenkratzer. Türme, fünfzig Meter breit, vierhundert Meter hoch, sie brechen vom Berg herunter, weil der Permafrost schwindet, der die Felsen seit der letzten Eiszeit zusammengekittet hat.

„Beim Klimawandel
bin ich
nicht so radikal
wie andere“

Holger Christmann: Wie sehr besorgt Sie das? 

Reinhold Messner: Auch wenn ich die Erwärmung erkenne, bin ich nicht so radikal wie andere. Das Klima hat sich immer in Wellen bewegt. Als Ötzi vor 5300 Jahren von Juval losging, um über die Alpen zu ziehen, wo er getötet wurde, war es entschieden wärmer als heute. Es gab in den letzten tausend Jahren kältere und wärmere Perioden. Das sind nur die kleinen Ausschläge. Die großen Ausschläge haben wir nicht erlebt. Es ist auch noch nicht gesagt, ob nach unserer Warmzeit eine nächste Eiszeit kommt. Wo ich wohne, auf tausend Metern Höhe, flossen vor Jahrtausenden Gletscher hinweg. Die letzte Eiszeit dauerte länger als es unsere menschliche Zivilisation gibt. Und unsere Bauern hatten viel mehr Angst vor dem Vordringen der Gletscher als vor dem Schmelzen des Eises.

Holger Christmann: Wie soll die Menschheit auf die Erderwärmung reagieren?

Reinhold Messner: Wenn ich lese, dass man 2030 auf minus fünfzig Prozent vom heutigen CO2-Ausstoß runterkommen will, muss ich lächeln. Ein guter Vorsatz. Ich glaube nicht, dass es gelingt. Bisher hat der CO2-Ausstoß weltweit immer zugenommen, obwohl wir uns seit Jahren dagegenstemmen. Erfolgreich sind wir nur, wenn wir weltweit zusammenstehen. Der amerikanische Präsident Joe Biden ist an den Verhandlungstisch zurückgekehrt, China besteht auf seinem Recht, zu produzieren und mehr CO2 ausstoßen zu dürfen, um aufzuholen, Putin tut eh, was er will. Wenn aber die großen Länder nicht mitmachen, ist guter Vorsatz aussichtslos.

Hier wohnt Reinhold Messner: Schloss Juval mit dem Hügel, an dem die Reben für seinen Wein wachsen. Den Klimawandel, so Messner, spüre er auch in der nahen Umgebung. Foto: Archiv Reinhold Messner

Holger Christmann: Wäre es gut, wenn in Deutschland die Grünen an die Macht kämen? 

Reinhold Messner: Die Grünen sind Praktiker geworden, als Praktiker sind sie wählbar. Als Fundamentalisten waren sie für mich nicht wählbar. Der Fundamentalismus ist in der Politik in jeder Hinsicht nicht brauchbar. Jetzt sind die Realos stark. Sie werden noch mehr Realos werden, wenn sie wirklich regieren dürfen.

Holger Christmann: Liberale und Konservative fürchten, dass unter den Grünen die Corona-Restriktionen nahtlos in Klima-Restriktionen übergehen.

Reinhold Messner: Wer den Kanzler stellen will, muss auch garantieren, dass der Haushalt stimmt. Es müssen Steuern reinkommen, und jemand muss diese Steuern bezahlen. Deutschland hat kaum Bodenschätze. Es kann dieses Steueraufkommen nur erwirtschaften, wenn es weiterhin wissenschaftlich, technisch und wirtschaftlich eine Führungsrolle innehat. Ich bin überzeugt, die Grünen wissen das und werden vernünftig an die großen Probleme herangehen.

Holger Christmann: Ein anderes Thema zum Schluss. Man mag es kaum glauben: Sie sind 76 Jahre alt. Beschäftigt Sie das Alter? 

Reinhold Messner: Mir ist klar, dass ich nicht ewig leben werde. Vielleicht habe ich noch ein paar Jahre, vielleicht ein Jahrzehnt. 

Holger Christmann: Sie haben oft dem Tod ins Auge gesehen. Ist der Tod etwas, dass Sie schreckt?

Holger Christmann: Der Tod hat weder Augen noch Absichten. Er ist Teil von uns. Ich lebe intensiv, im Hier und Jetzt, weil ich zu sterben gelernt habe. 

Holger Christmann: Sie kennen Christentum, Hinduismus, Buddhismus. Sind Sie ein gläubiger Mensch? 

Reinhold Messner: Ich glaube nicht, aber ich respektiere alle Religionen, wenn sie nicht als Machtmittel missbraucht werden, und lasse das Jenseits offen.

„Diane und ich
sind eine Seilschaft“

Holger Christmann: Sie sind offenbar auch ein Schönheitsideal. Auf der Uhrenmesse Watches and Wonders fragte eine Journalistin nach dem Geheimnis ihrer Haarpracht. Verraten Sie es?  

Reinhold Messner: Ich bin froh, dass meine Mutter starkes Haar hatte. Ansonsten kann ich auch nur Vermutungen anstellen: Ich war viel in kalten Regionen unterwegs, habe viel Sturm und Regenwasser abbekommen. Seitdem wird mein Haar stärker und stärker. Vielleicht strömt auch meine Energie bis in meine Haarspitzen. Ansonsten benutze ich seit fünfzig Jahren Alpecin. 

Holger Christmann: Kam der Hersteller schon mit einem Werbevertrag auf Sie zu?

Reinhold Messner: Bislang nicht (lacht). 

Holger Christmann: Sie sind eine Partnerschaft mit der Uhrenmarke Montblanc eingegangen. Montblanc hat Ihnen zwei Uhren gewidmet. Im Herbst 2020 kam die 1858 Geosphere Messner Limited Edition auf den Markt, im Frühjahr folgt die 1858 Geosphere Limited Edition Gobi Desert, die ihrer Solowanderung durch die Wüste Gobi gewidmet ist. Wie gefallen Ihnen die Uhren? 

Reinhold Messner: Es sind Kunstwerke der Mechanik. Sie sind formschön und erinnern mich an wichtige Momente meines Lebens: Mont Blanc, Gobi, Seven Summits (1969 bestieg der 25-Jährige Reinhold Messner als Erster im Alleingang die gefährliche Droites-Nordwand am Mont Blanc und erregte damit in der Welt der Bergsteiger Aufsehen, Anm. der Red.).

Gemeinsam in die Zukunft: Reinhold Messner und Diane Schumacher an einem sonnigen Tag in Hamburg. Foto: privat

Holger Christmann: Waren Uhren schon früher ein Thema für Sie? Das Duo Hillary/Tenzing bestieg mit einer Rolex, aus der die Explorer wurde, den Mount Everest. 

Reinhold Messner: Als ich 1978 ohne künstlichen Sauerstoff zum Mount Everest aufbrach, hatte ich wie die beiden eine Rolex-Uhr dabei, die ich auch auf dem Gipfel getragen habe. Sie funktionierte tadellos. Rolex hatte mir die Uhr zukommen lassen. Rolex war clever und traute mir zu, dass mir der Aufstieg ohne Sauerstoffmaske gelingt. Die ganze Welt meinte ja, dass ich scheitern würde. Ich habe die Uhr später für einen guten Zweck gespendet.

Holger Christmann: Da wir übers Jungbleiben sprechen. Privat scheinen Sie gerade Ihren zweiten Frühling zu erleben.

Reinhold Messner: Diane und ich haben Ende Mai geheiratet. Wir kennen uns seit drei Jahren. Uns war schnell bewusst, dass wir uns sehr gut ergänzen und dass zwischen uns eine tiefe Verbundenheit besteht. Als Seilschaft sind wir bei der MMH, der Messner Mountain Heritage, und am Berg unterwegs.

Holger Christmann: Wenn Sie zurückblicken: Was hat Sie die Jahrzehnte über motiviert? 

Reinhold Messner: Neugier und Sinnhaftigkeit. Bergsteigen ist ja nicht nützlich. Es ist nur möglich. Abenteuer wie das Bergsteigen können einer breiten Bevölkerungsschicht klarmachen, dass zwischen Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit ein großer Unterschied besteht. Etwas kann unnütz sein, aber für den Akteur das Sinnvollste der Welt. Wenn es für mich sinnvoll ist, kann ich es damit weit bringen. Die meisten Menschen achten auf Nützlichkeit. Ich reagiere auf Sinnhaftigkeit, wobei ich den Sinn, der nie und nirgends vom Himmel fällt, selbst stifte.

Holger Christmann: In einem Interview mit dem Chef der Uhrenmarke Montblanc, Nicolas Baretzki, verrieten Sie Ihr Geheimnis für ein glückliches Leben. Zu welchen Einsichten sind Sie gelangt? 

Reinhold Messner: Es ist wichtig, dass man seinen eigenen Weg verfolgt. Es ist sehr schwer, in jungen Jahren herauszufinden, wie dieser Weg aussieht. Wenn du ihn gefunden hast, folge ihm. Es ist zu spät, in älteren Jahren auf ein erfolgreiches Leben zurückzublicken. Es ist viel entscheidender, jetzt an dem Ort, wo man ist, mit Enthusiasmus zu leben und mit Freude an dem, was man tut. Damit ist man ein Teil der Natur, des Kosmos. Es ist in dem Moment unwichtig, ob man schnell oder nicht schnell ist, ob man im Wettbewerb vorne liegt oder nicht, das ist alles nur Oberfläche. Relevant ist es, komplett im eigenen Tun aufzugehen, so wie ein Bergsteiger sich auf die Wand konzentriert und ein Wanderer darauf fokussiert ist, die nächste Jurte zu erreichen. Dabei bist du involviert in die Natur, in dich selbst, in die Gefahr, die vor dir liegt. Du denkst nicht darüber nach, ob du glücklich bist. Nachher, wenn du zurückblickst, weißt du, du warst zu diesem Zeitpunkt ein glücklicher Mensch. Das ist gelingendes Leben.

Wir bedanken uns für das Gespräch. 

© Holger Christmann

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