Editorial

Wie konnte es so weit kommen?

1991 reiste der Publisher von FEATURE zum ersten Mal nach Russland. Seitdem bemerkte er besorgt die ideologische Verwandlung vieler Russen – und wunderte sich über die Naivität Europas. Ein fulminantes Buch erzählt nun die lange Geschichte von Putins Krieg gegen den Westen.

VON HOLGER CHRISTMANN
7. März 2022
Anatoly Sobtschak, Bürgermeister von Sankt Petersburg, mit Christine Vranitzky, Frau des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky, im September 1992 auf dem Weg zu einer Zeremonie. Im Hintergrund Sobtschaks Schatten, Wladimir Putin. Foto: Tass

Am 15. Juni 2015 stand ich mit einem alten Freund, der heute einen führenden Posten in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen bekleidet, auf einer Dachterrasse im Moskauer Gorki-Park. An diesem Abend eröffneten der Oligarch Roman Abramowitsch und seine damalige Frau Dasha Zhukova das von ihnen finanzierte Garage-Museum. Garage hat sich den Dialog zwischen zeitgenössischer westlicher und russischer Kunst auf die Fahnen geschrieben. Man merkt dem Museum an, dass das Gründerpaar die Stadt mit ihrer Initative kulturell öffnen möchte. Wir standen also in dieser lauen Moskauer Sommernacht zusammen, umgeben von schick gekleideten Frauen und Männern der Moskauer Society. Als mein Freund, der schon lange in Moskau lebt und mit einer Russin verheiratet ist, den Blick schweifen ließ, sagte er: „Und wenn Putin morgen ruft: Wir holen uns Kiew, dann werden ihm alle diese Leute, die so westlich wirken, begeistert zujubeln.“

Ist es wirklich nur
Putins Krieg?

Der Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ein Jahr zuvor hatte Russland die Krim annektiert. Dieser Landraub hatte viele Russen begeistert. Sie begründeten das damit, dass die Krim traditionell russisch gewesen sei. Katharina die Große hatte die Halbinsel 1783 zum ersten Mal annektiert. Seit 1991 ist der Zipfel im Schwarzen Meer, der etwa so groß wie das Bundesland Brandenburg ist, offizielles Staatsgebiet der Ukraine.

Dass die Annexion Völkerrecht brach und nichts anderes als ein geschickt eingefädelter gigantischer Raub war, schien die wenigsten zu interessieren. Und entsprach so ein Vorgehen nicht einer Alltagserfahrung in Russland? Wer schlau ist und sich etwas schnappt, was ihm nicht gehört, wird von manchem als Gewinner bewundert. Diebstähle ganzer Unternehmen unter Zuhilfenahme fingierter Anklagen sind in Russland Alltag.

Hinzu kommt eine Militarisierung des Denkens, wie sie uns in Europa längst fremd geworden ist. Viele Russen scheinen freudig erregt zu sein, wenn Dimitri Kisseljow, der Propagandist des Staatssenders Rossija 1, die Zahl russischer Atomsprengköpfe aufzählt und damit prahlt, Russland sei das einzige Land, das New York zerstören könne. Eine Umfrage von CNN im Februar 2022 ergab, dass fünfzig Prozent der Russen bekundeten, einen Krieg gegen die Ukraine zu befürworten, wenn er dazu führe, dass das Nachbarland nicht der Nato beitritt. Nationalistische Töne hört man nicht nur von eingefleischten Putin-Verehrern. Lag mein Freund in Moskau also richtig mit seiner Einschätzung? Seine Diagnose kam mir jetzt wieder in den Sinn, als Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung sagte, Russlands Angriff auf die Ukraine sei allein Putins Krieg.

Es gibt eine Opposition gegen diesen Wahnsinn. Dazu gehören junge, gebildete Leute, die den Westen kennen und ihn nicht als Feind erleben und der staatlichen Propaganda misstrauen. Sie folgen den Videos von Alexej Nawalny und sind entsetzt über die Korruption der Mächtigen. Mehr als 130 Millionen Menschen sahen Nawalnys Videos über Putins milliardenschweren Palast am Schwarzen Meer und Dmitri Medwedjews italienische Villa – Reichtümer, die beide niemals aus ihren regulären Staatsbezügen hätten finanzieren können.

Immer wieder gingen viele Tausende junge und alte Menschen in den letzten zehn Jahren gegen das Regime auf die Straße, ließen sich niederknüppeln und einsperren. Es gibt unabhängige Stimmen wie den  TV-Sender Doschd, die Zeitung Nowaja Gaseta und den Radiosender Echo Moskwy. Nicht umsonst wurde diesen letzten freien Medien jetzt entweder die Betriebserlaubnis entzogen (Echo Moskwy, TV Doschd) oder sollen zensiert werden wie Nowaja Gaseta.

Viele im Land sind unzufrieden. Ein Mitarbeiterin des Kunstmuseums Garage bekannte bei meinem nächsten Besuch in Moskau 2016, dass sie längst ausgewandert wäre, wenn es das weltoffene Umfeld ihres Arbeitsplatz nicht gäbe. Hier arbeiten junge Leute aus mehreren Ländern, die mit Sowjetnostalgie nichts anfangen können, die Konfrontation mit Europa ablehnen. Sie wissen aber auch, was ihnen blüht, wenn sie öffentlich Stellung beziehen. Angestellte in Moskau bekamen bereits ihre Kündigungsschreiben ausgehändigt, weil sie im Internet den Krieg gegen die Ukraine verurteilten.  Schon den Krieg beim Namen zu nennen, ist neuerdings strafbar.

Andere klammerten sich lange an das Narrativ, dass Wladimir Putin dem Land eine lange Phase der Stabilität gegeben habe, während er westliche Demokratien destabilisierte. Dieser Westen wird von der staatlichen Propaganda nicht als friedlich und demokratisch präsentiert, sondern als Nato-Block. Dass die Nato als Verteidigungsbündnis demokratisch verfasster Länder gegründet wurde, wird nicht dazu gesagt. Dass die Nato Russland selbst dann in Ruhe ließ, als das Land am Boden lag, Anfang der 1990er Jahre, wird ebenfalls nicht erwähnt. In Nato-Staaten wie Großbritannien und Deutschland bunkern derweil Russlands Reiche und hohe Regierungsbeamte ihr Geld. Sie kaufen dort Immobilien, senden ihre Kinder auf westliche Universitäten und schätzen die Ordnung und Rechtssicherheit Europas. Vor diesem Westen, dem sie ihr Geld und ihre Kinder anvertrauen und in dem sie elegante Villen kaufen, behaupten sie, das russische Fußvolk beschützen zu müssen.

Was Putin tat,
als ich 1991 in
Sankt Petersburg war

Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wenn ich mit Russen spreche, erzähle ich gern, dass ich das Land zum ersten Mal besuchte, als Michail Gorbatschow noch Staatspräsident war. Im September 1991 nahm ich nach einem Jahr Russischkurs an der Uni an einem mehrwöchigen Sprachkurs in Sankt Petersburg teil. Die Stadt war wenige Tage vor meiner Ankunft von Leningrad in Sankt Petersburg umbenannt worden.

Morgens lernte ich Russisch, nachmittags erkundete ich die Stadt. Ein wichtiger Begleiter war Hubert von Bechtholtsheims Leningrad. Biographie einer Stadt, ein wunderbares Buch, das heute nur noch antiquarisch zu bekommen ist – ein anderer meine russische Lehrerin, eine alte Dame, die verliebt war in Peter den Großen und mich an dessen Lieblingsorte wie den Sommergarten führte. Diese Lehrerin strahlte Güte und Wärme aus. Sie hatte die grausame Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht erlebt und sich danach geschworen, sich nie mehr mit etwas Negativem zu befassen. Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, einen Kriminalroman zu lesen. Sie hatte zu viel Leid im Krieg gesehen und erfahren. Sie liebte die Literatur, vor allem die französische. Warmherzig war auch die ältere Dame, bei der ich wohnte. Die Witwe eines Physikers ging jeden Morgen zum Markt, um mir zum Frühstück Lachs zu servieren. Abends ging ich mit einer Freundin in die Philharmonie und ins Ballett. Ich nahm mir ein Taxi oder fuhr per Anhalter in die Stadt. Russen nahmen privat Ausländer mit, um sich ein paar D-Mark dazu zu verdienen. Man musste jedoch darauf achten, dass man auf dem Bordstein nicht neben einer sehr tiefen Pfütze stand, sonst bekam man einen gefühlten Eimer Wasser ab, wenn ein Auto passierte. Die Schlaglöcher waren enorm tief.

In der Metro und in den Bussen, die sich wegen Überfüllung oder schlechter Federung auf den Brücken gefährlich zur Seite neigten, roch es nach einer Seife, die alle zu verwenden schienen. Es war erschütternd, die Knappheit an allem zu sehen. Auf dem Newski-Prospekt gab es kein Geschäft außer einem düsteren Haushaltswarenladen und der altehrwürdigen Buchhandlung Dom Knigi. Nur an einem Ort konnte man abends gegen westliche Devisen Getränke wie Cola oder Campari ordern, in der Kellerbar Chaika, die von einem Hamburger geführt wurde. Hier lernte ich junge Russen kennen, mit denen ich viel Zeit verbrachte. Die Russinnen in diesem Freundeskreis sprachen fließend französisch, sie lasen Flaubert und Guy de Maupassant und waren immer beeindruckend gut gekleidet. Ihre Blusen und Röcke hatten sie nach westlichen Vorbildern aus Schnittmusterbögen selbst genäht.

Sie zeigten mir ihre Lebensmittelmarken, mit denen sie kleine Rationen Essen am Tag erhalten sollten – wenn es denn Vorräte gab. In Putins Netz (im Original: Putin’s People, Harper Collins 2022), einem Buch, das für mich schon jetzt das Buch des Jahres ist, erfahre ich, wer damals für das Öl-für-Lebensmittel-Programm verantwortlich war, das die Versorgung der Stadt sicherstellen sollte. Es war ein gewisser Wladimir Putin. Glaubt man den Zeitzeugen, die in Belton Buch zu Wort kommen, kümmerte sich Putin aber vor allem darum, das Öl über dubiose Firmen, denen er verdächtig preisgünstige Lizenzen erteilte, zu verschiffen. Die gigantischen Einnahmen aus den Rohstoffexporten verschwanden auf Offshore-Konten, während die Lebensmittel nie ankamen.

Für die Misere der untergehenden Sowjetunion machte übrigens niemand in Sankt Petersburg den Westen verantwortlich. Es war den Russen klar, dass es ihr Wirtschaftssystem war, das versagt hatte. Jetzt galt es, den Umbau des Riesenreichs mit seinen vielen Republiken in eine westliche Marktwirtschaft zu meistern. Schon bald erklärte eine Sowjetrepublik nach der anderen ihre Unabhängigkeit, und nach allem, was man weiß, war Russland damals froh, die militärischen Kosten dieses Imperiums nicht mehr tragen zu müssen.

Was tat Wladimir Putin in dieser Zeit? Er fädelte dubiose Geschäfte ein, sicherte sie durch die Zusammenarbeit mit Petersburger Unterwelt-Banden ab und tat offenbar alles, um sich und die Seinen vom KGB bald wieder an die Schalthebel der Macht zu bringen.

Glaubt man dem Buch der Wirtschaftsjournalistin von Reuters, die lange als Moskau-Korrespondentin der Financial Times arbeitete, stellten die russischen Geheimdienste schon Mitte der 1980er Jahre fest, dass die Sowjetunion nicht wettbewerbsfähig war und legten schwarze Kassen im Westen an, um sich für den Zusammenbruch des Systems zu wappnen und ihren Krieg gegen den Westen fortsetzen zu können.

Catherine Belton schrieb mit Putins Netz die wichtigste Buch-Neuerscheinung des Jahres. Fotos: Harper Collins

Wladimir Putin hatte seine Laufbahn als KGB-Offizier in Dresden begonnen. Die Stadt spielte eine überraschend wichtige Rolle für die russischen Geheimdienste. Sie war anders als Ost-Berlin weit weg von den Augen und Ohren westlicher Dienste. Ein Terrorist der RAF soll später berichtet haben, man sei regelmäßig in Dresden gewesen, um vom KGB Geld, Waffen und Tipps für Anschläge in Westdeutschland zu erhalten. Als Belton für ihr Buch einen Putin-Vertrauten auf diese Verbindung anspricht, rät der ihr, an dieser Stelle lieber nicht weiter nachzuforschen. Wladimir Putin war dem Buch zufolge inDresden nicht das kleine Licht, als das er oft beschrieben wird. Immerhin sollen Stasi-Generäle auf seine Befehle gehört haben.

In Sankt Petersburg war Putin zuerst für Außenbeziehungen zuständig, 1992 wurde er Stellvertreter des Bürgermeisters Anatoli Sobtschak. In dieser Zeit soll er Lizenzen für Rohstoffausfuhren über die Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft an undurchsichtige Firmen vergeben haben. Eine Kollegin Putins in der Stadtverwaltung, Marina Salye, verdächtigte Putin damals korrupter Geschäfte. Anklage wurde jedoch nie erhoben. Leute, die Putin hätten belasten können, fielen aus dem Fenster oder wurden erschossen. Auch Salyes Tod sehr viele Jahre später wirft bis heute Fragen auf.

Der Westen war überzeugt, dass der Ost-West-Konflikt endgültig überwunden sei und hoffte, dass Russland einen demokratischen Weg einschlägt. Dafür griff man tief in die Tasche. Die Bundesrepublik hatte der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre zwei für damalige Verhältnisse kolossale Kredite von 4,5 Milliarden Dollar gewährt, um Michail Gorbatschow dabei zu helfen seine Reformen umzusetzen und das Land vor dem Zusammenbruch zu retten. Weitere Zahlungen folgten. Russland konnte sich sein Imperium nicht mehr leisten und brauchte dringend Geld. Deutschland wollte die Wiedervereinigung. Der Deal des Jahrhunderts war perfekt.

Währenddessen, so berichtet Belton, leerten KGBler die Staatskassen. Ein Netzwerk aus Agenten transferierte einen Großteil des Devisenvorräte der Kommunistischen Partei Russlands ins Ausland. Als Russlands Regierung unter Boris Jelzin nachsah, was noch da war, fanden sie nur noch leere Kassen vor. Leitende Beamte der zuständigen Liegenschaftsverwaltung der Kommunistischen Partei Russlands, die wussten, wieviel Geld veruntreut worden war, fielen aus dem Fenster oder kamen auf andere Art ums Leben.

Putins Netz erzählt auch, wie einige wenige im Zuge der ersten zaghaften Reformen zu Wohlstand kamen. Laut Belton waren es vor allem Juden, die im Sowjetapparat wenig Aufstiegschancen hatten. Der KGB gab Leuten wie Michail Chodorkowski Spielgeld, um im kleinen Rahmen Privatwirtschaft zu betreiben, etwa im Handel mit Computern.

Als der russische Staat Mitte der 1990er Jahre dringend Geld benötigte und Öl- und Gasfelder zu Spottpreisen privatisierte, konnten die neuen, jungen Unternehmer das meiste Geld auftreiben, auch weil sie selbst Banken hatten gründen dürfen und sich Kredite notfalls selbst vergeben konnten. Russlands Geheimdienste waren entsetzt, dass sie beim Ausverkauf von Ölfelder und anderen Rohstoffquellen leer ausgegangen waren.

Als Wladimir Putin, ein Mann aus ihren Reihen, an die Macht kam, sagten die Silowiki, die Geheimdienstler, den Oligarchen den Kampf an, um in den Besitz dieser Ressourcen zu gelangen. Oligarchen wie Michail Chodorkowski wurden aufgrund fingierter Steuerdelikte enteignet. Russlands wichtigste Wirtschaftsunternehmen kamen in staatliche Hand. Der Staat wurde zum wichtigsten Unternehmer. „Es gibt kaum noch echte Unternehmer“, klagt ein Insider in Beltons Buch.

Ganz am Anfang ihres Buchs gibt es eine aufschlussreiche Stelle. Sergeij Pugatschew, der einstige „Bankier des Kreml“, schildert, wie der russische Präsident seine Mitarbeiter auffordert, sich über ihre Ämter persönlich zu bereichern. „Das erste Gespräch, das Putin mit einem neuen Staatsangestellten führt, verläuft laut Pugatschew so: „Hier ist dein Unternehmen. Teile es nur mit mir. Wenn dich jemand angreift, verteidige ich dich, und wenn du deine Position nicht als Geschäftsmodell nutzt, bist Du ein Dummkopf.“

Seinen Feldzug gegen den Westen habe Wladimir Putin nie aufgebeben, schreibt die Autorin. Sie zitiert Sergej Tretjakow, einen früheren Oberst des Russischen Auslandsgeheimdienstes SWR in New York, der sagte: „Ich möchte die Amerikaner warnen. Als Volk sind Sie überaus naiv, wenn es um Russland und seine Absichten geht. Sie glauben, weil die Sowjetunion nicht mehr besteht, sei Russland jetzt ihr Freund. Das stimmt nicht, und ich kann Ihnen zeigen, wie der (Auslandsgeheimdienst) SWR die USA auch heute noch zu zerstören versucht, und zwar stärker als der KGB während des Kalten Krieges.“

In der Putin-Ära füllten hohe Öl- und Gaspreise Russlands Staatskassen, westliche Investitionen brachten Russland Arbeitsplätze. Ich fuhr auch jetzt fast jedes Jahr nach Sankt Petersburg oder Moskau, sprach mit Russen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, erlebte den Hedonismus der jungen Petersburger, die im Club Arena exzessiv feierten,  interviewte die Chefredakteurin der russischen Vogue auf ihrer Datscha, ging auf schicke Partys und besuchte trendige Galerienviertel.

2005 änderte
sich die Stimmung

Etwas hatte sich verändert. Die Russen wollten ihren Anteil am steigenden Wohlstand, wer wollte es ihnen verdenken. Für das Lesen französischer Literatur und für Warmherzigkeit blieb keine Zeit mehr. Die Menschen wurden chauvinistischer. Seit Mitte der 2000er Jahre wurde man von Männern zur Seite genommen und gefragt, warum Deutschland an Amerika hänge. Ob nicht Russland auf dem eurasischen Kontinent der natürliche Verbündete sei. Ich antwortete, dass Amerika Westdeutschland die längste Phase an Freiheit, Frieden und Demokratie in seiner Geschichte bescherte, wofür ich persönlich sehr dankbar sei. Der Gesprächspartner antwortete, Russland habe sich geändert. Ich wandte ein, dass ich mir gerade bei der politischen Freiheit nicht so sicher war.

Der Westen war beeindruckt und geblendet vom plötzlichen Reichtum der Russen, den diese vor allem den Bodenschätzen ihres Landes verdanken. Reiche Russen ließen sich in London, an der Côte d’Azur und in Baden-Baden nieder und bevölkerten die Strände Sardiniens. Gewiss, viele russische Geschäftsleute verdienen ihr Geld auf anständige Weise. Erst recht tun das die allermeisten Russen, die in der Privatwirtschaft angestellt sind. Aber es gibt eben auch die anderen. Ein Engländer, der in Moskau arbeitet, empfahl mir in einem Luxusresort im Süden Sardinens, ich solle die russischen Mütter mit Kind am Strand einmal fragen, womit ihr Mann sein Geld verdiene … wem er es gestohlen habe.

Am liebsten reisten die neuen Russen in ihrer eigenen Blase, umgeben von Landsleuten. Menschen anderer Kulturen und deren Denkweisen kennenzulernen, schien ihnen kein Anliegen zu sein.

Der Autor 2015 in Moskau mit Kate Fowle, damals Chefkuratorin des Museums für Zeitgenössische Kunst Garage. Foto: privat

Ganz nebenbei erfuhr ich, wie sich Putin und seine Geheimdienst-Clique an der Macht halten: natürlich durch Rohstoffeinnahmen und antiwestliche Propaganda, aber auch durch gefälschte Wahlergebnisse. Eine befreundete Mitarbeiterin der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg erzählte mir, ihr Amt erhalte vor den Präsidentschaftswahlen Zielvorgaben für die Ergebnisse von Putins Partei Einiges Russland. Es gebe Anweisungen von oben, welches Resultat ihr Wahlbezirk erreichen müsse. Es bleibe der Kreativität der Behörde überlassen, wie sie dieses Ziel erreiche.

Während eine neue Mittelschicht bescheidenen Wohlstand erreichte, begann die herrschende Clique im Kreml den Feldzug gegen ihre Kritiker. 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja ermordet. Im selben Jahr töteten russische Agenten ihren ehemaligen Kollegen Alexander Litwinenko in London mit radioaktivem Polonium. Litwinenko schien ein weiteres dunkles Geheimnis über Putin und die Geheimdienste zu bestätigen, als er Putin und den FSB beschuldigte, in Moskau Wohnblocks in die Luft gesprengt zu haben, um die Tat tschetschenischen Terroristen in die Schuhe zu schieben und den Zweiten Tschetschenienkrieg zu beginnen.

2015 machte ein Killer auch vor einem ehemaligen Vize-Präsidenten der Russischen Föderation nicht halt: Der Putin-Kritiker Boris Nemzow wurde in Moskau auf offener Straße auf der Großen Moskworetskij-Brücke erschossen. Seine Sympathisanten legen seit Jahren Blumen an den Tatort ab. 2018 versuchten russische SWR-Mitarbeiter einen weiteren Ex-Agenten, Sergej Skripal, und dessen Tochter in der britischen Stadt Salisbury mit dem militärischen Nervengift Novitschok zu ermorden. Es folgten der Anschlag auf Alexej Nawalny und dessen Verhaftung.

Die Ermordung 298 ausländischer Flugpassagiere, darunter 196 niederländische Staatsbürger, als pro-russische Separatisten 2014 in der Ostukraine vermutlich versehentlich den Malaysia-Airlines-Flug MH 17 abschossen, stritt Russland aller Belege zum Trotz ab.

Zuletzt heftete der Kreml kritischen Medien und Wissenschaftlern das Etikett eines ausländischen Agenten an und verbot Memorial. Die 1988 gegründete Organisation, deren erster Vorsitzender der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow war, widmete sich der Aufarbeitung der Verbrechen der Stalinzeit und führte Interviews mit den letzten Überlebenden des stalinistischen Terrors. Befragungen von Memorial gingen in The Whisperers (2013) ein, das epochale Werk des britischen Historikers Orlando Figes über das Privatleben in der Stalinzeit. Schon lange war bekannt, dass der Kreml das Material von Memorial in seine Hand bekommen wollte, weil das Regime dabei war, Stalin zu rehabilitieren. Das Verbot von Memorial ging weit über viele Befürchtungen hinaus. Der 65 Jahre alte Memorial-Historiker Jurij Dimitijew wurde 2020 zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, 2021 wurde sein Haft auf 15 Jahre verlängert. Je mehr die Repressalien zunahmen, desto mehr wirkte es, als seien sie Teil eines größeren Plans. Jetzt kennen wir diesen Plan: Es war der offene Angriff auf die Ukraine.

Das Dritte Reich hätte gerade uns Deutschen eine Warnung sein können: Auch hier wurden erst die Opposition und die freie Presse zum Schweigen gebracht, dann wurde der Angriffskrieg gestartet.

Schon 2008
warnten Experten
vor Putins Pipelines

Experten warnten auch schon lange vor Putins Gas-Pipelines. Im Jahr 2008 las ich ein Buch von Edward Lucas, eines Redakteurs des Economist. Es hieß Der Kalte Krieg des Kremls: Wie Putin Russland und den Westen bedroht. Diesen Kalten Krieg, so belegte Lucas eindrucksvoll, führe das Land mit Hacking, Desinformation, Cyberangriffen und über das Spannen eines Netzes von Gas- und Ölpipelines, mit denen andere Länder gezielt in die Abhängigkeit des Kremls gebracht wurden. Der Autor warnte Europa davor schon damals davor, in Putins Gas-Falle zu tappen.

Wer Lucas‘ Buch gelesen hatte, rieb sich verwundert die Augen, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel behauptete, Nord Stream 2 sei ein rein privatwirtschaftliches Projekt. Wusste sie es wirklich nicht besser?

Gerne wurde Wladimir Putin von vermeintlichen Russland-Verstehern als Mann beschrieben, der sein Land zu alter Größe führen möchte. Dazu passte nicht, dass der Kreml eher wenig Geld in die Modernisierung der Wirtschaft investierte, dafür viel in die Aufrüstung des Militärs.

Ein Buch, das vielen die Augen öffnete, leider aber nicht jedem. Edward Lucas vom Economist warnte 2008 in The New Cold War. Putin’s Russia and the Threat to the West, dass Putins Russland den Westen im Visier habe und dass Gas-Pipelines im strategischen Kalkül des Kremls eine wichtige Rolle spielten.

Angesichts des Kriegs in der Ukraine hat der Westen nun entschlossen reagiert und Sanktionen gegen Putin und seinen Umkreis, gegen Russlands Notenbank und gegen wichtige Geldhäuser verhängt. Russland ist vom Flugverkehr genauso abgeschnitten wie von westlichem Technologie-Transfer. Doch einige fordern mehr.

Bill Browder, einst CEO der größten ausländischen Investmentgesellschaft in Russland, verlangt, dass noch viel mehr Oligarchen von Putins Gnaden sanktioniert werden. Putin sei der reichste Mann der Welt, sein Geld werde von diesen Milliardären treuhänderisch verwaltet, sagt der einstige Großinvestor und heutige Menschenrechtsaktivst. Wer ihn zum Umdenken bewegen wolle, der müsse dieses Netzwerk ins Visier nehmen, fordert Browder im Exklusiv-Interview mit FEATURE. Michail Chodorkowski, der Oligarch der ersten Stunde, verlangt flächendeckende Sanktionen, die auch die normale russische Bevölkerung spürt. Ein Großteil dieser Bevölkerung habe Putins Treiben über Jahre schweigend oder billigend zugesehen. Erst wenn die Russen die Konsequenzen von Putins Krieg in ihrem eigenen Alltag schmerzhaft spürten, begännen sie, umdenken. Tatsächlich zeigen Nachrichten auch jüngerer Russen, die mir in den letzten Tagen zugespielt wurden, eine erschreckende Uninformiertheit und sogar eine Genugtuung über den Krieg gegen die Ukraine. Diesen Menschen sind mit Aufklärung nicht zu erreichen.

Auf uns und viele Europäer wirkt Putins Invasion der Ukraine wie ein Schock, der unseren Glauben an die Macht des guten Willens in Frage stellt. Deutschland sah sich immer als als ehrlicher Makler, der internationale Konflikte auf dem Weg der Diplomatie zu lösen versucht.

Ein zu allem entschlossener Despot war jedoch durch Verhandlungen von seinem Plan nicht abzubringen. Jetzt liefert unser Land gemeinsam mit anderen europäischen Partnerländern Waffen, damit sich die Ukrainer wehren können. Ist das richtig oder falsch? Wir haben aus dem Krieg gelernt, Pazifisten zu sein. Und dabei vergessen, dass die Westalliierten (und ja, auch die Russen) Hitlers Angriffe nicht mit Verhandlungen stoppen konnten. Sie mussten enorm starke Waffen einsetzen, um Hitlers Angriffskriege in Europa zu beenden. Wir vergessen auch oft, welche menschlichen Opfer die Westalliierten brachten. Zehntausende amerikanische Soldaten starben allein Ende 1944 in den furchtbaren Schlachten im Hürtgenwald in der Eifel und in den Ardennen für unsere Freiheit. Es ist überfällig, dass Deutschland dieser Kriegsopfer gedenkt.

Dass es wichtig es ist, sich und andere gegen einen Aggressor verteidigen zu können, auch das ist eine der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg – wenn auch eine, mit der wir nicht gerechnet haben.

© Holger Christmann