Interview
„Die Bayern-Fans haben meinem Lied ein neues Leben geschenkt“
Die Songs von Marcella Bella sind Klassiker der italienischen Popmusik. Jetzt singen Abertausende in der Münchner Allianz-Arena die Melodie ihres Lieds Montagne verdi. FEATURE sprach mit Marcella Bella über ihre Wiederentdeckung, die Qualität italienischer Musik, ihre heimliche Rivalität mit Adriano Celentano und über die Frage, ob sie Montagne verdi gerne einmal selbst in der Allianz-Arena singen würde.
VON HOLGER CHRISTMANN
6. Oktober 2025
Ihre Songs sind Klassiker der italienischen Popmusik: Marcella Bella. Foto: Paolo De Francesco
Ein Musikvideo aus der Münchner Allianz-Arena fand im Frühjahr weit über die Fanszene des dort spielenden Fußballvereins FC Bayern München hinaus Beachtung. In dem Film stellten die Fans der Südkurve dem Rest der Welt die neue Stadionhymne des FC Bayern mit dem Titel „Immer vorwärts, FC Bayern“ vor. Vokale und instrumentale Verstärkung erhielten die Anhänger von Operntenor Jonas Kaufmann und von dem auf das Einspielen von Filmmusik spezialisierten Budapest Scoring Orchestra. Die aufwändige Produktion der Hymne – ein Geschenk der Fans an den Verein zu dessen 125. Geburtstag – war die Idee einer Fanvereinigung namens Club Nr. 12 und fand in Stadionsprecher Stephan Lehmann und Hans Franek, Produzent einer anderen Bayern-Hymne, „Stern des Südens“, Unterstützer.
Die italienische Popsängerin Marcella Bella staunte nicht schlecht, als sie das Video sah, das auch in Italien viral ging. Denn die neue Stadionhymne, die seither bei jedem Heimspiel vor dem Einlaufen der Spieler im vollbesetzten Oval erklingt und Münchens Ruf als nördlichste Stadt Italiens zu bestätigen scheint, verwendet die Melodie ihres 1972 veröffentlichten Liedes „Montagne verdi“. Als Referenz an die Urheberin schmettert Jonas Kaufmann in besagtem Video mit leidenschaftlichem Belcanto eine Strophe des italienischen Originals.
Marcella Bellas Lieder aus den 70er und 80er Jahren sind Klassiker der italienischen Popmusik. Neben „Montagne verdi“ gehören Songs wie „Io, domani“ und Disco-Hits wie „Nessuno mai“ und „Nell’aria“ zum tradierten Liedgut der Musica Leggera. Beim diesjährigen Festival von Sanremo feierte die zierliche Frau, die mit ihrer üppigen Lockenpracht Curl Power ausstrahlt, ihr Comeback. Mit der Wiederentdeckung durch die Fankurve des FC Bayern München hatte die 73-jährige Sängerin aber nicht gerechnet.
Wir haben Marcella Bella telefonisch erreicht und sprachen mit ihr über ihr Revival, die Geschichte hinter „Montagne verdi“, ihre heimliche Rivalität mit Adriano Celentano und über die Frage, ob jugendliche Ausstrahlung eine Einstellungssache ist.
„Das Mädchen in Montagne verdi bin ich“
FEATURE: Wie haben Sie reagiert, als Sie erfuhren, dass Jonas Kaufmann und die Fans des FC Bayern München mit Ihrem Song „Montagne verdi“ in der Münchner Allianz-Arena auftraten?
Marcella Bella: Als ich das Video sah, bekam ich Gänsehaut. Ich weiß, dass die Bayern ein großer Club sind. Viele tausend Menschen im Stadion, die mein Lied singen, und der Tenor, der eine Strophe des Originals vorträgt – das löste große Emotionen in mir aus. Ich war erfreut und gleichzeitig überrascht, dass gerade die Fans von Bayern München mein Lied wiederentdeckt haben. Ich vermute, die Idee hatten Bayern-Tifosi mit italienischen Wurzeln. Diese Bayern-Fans haben meinem Lied ein neues Leben geschenkt. Das Video aus dem Stadion ging auch in Italien viral. Ich wurde daraufhin gebeten, „Montagne verdi“ in einer tanzbaren Version neu aufzunehmen. Das habe ich getan.
„Die Bilder aus der Allianz-Arena lösten große Emotionen in mir aus“, sagt Marcella Bella. Foto: Paolo De Francesco
FEATURE: Interessieren Sie sich für Fußball?
Marcella Bella: Nicht so sehr wie mein Mann, aber wenn ein wichtiges Spiel läuft, sehe ich es mir an. Als Sizilianerin fühle ich mich Catania verbunden, einem Club mit großer Vergangenheit. Heute spielt er leider nur in einer unteren Klasse.
FEATURE: In „Montagne verdi“ erzählt das lyrische Ich von den grünen Bergen der Heimat. Sie wuchsen auf Sizilien auf, zogen aber früh nach Mailand. Erzählt das Lied Ihre eigene Geschichte?
Marcella Bella: Ich freue mich, dass Sie mir diese Frage stellen. Das Lied handelt von einem Mädchen, das in den Zug steigt und Abschied nimmt von den grünen Bergen seiner Kindheit und von seinem aufrichtigsten Freund, einem Kaninchen mit schwarzer Schnauze. In der Ferne angekommen, sehnt es sich zurück nach der Sonne der Heimat. Es schluckt manches Salz hinunter. Das Salz meint die Tränen des Heimwehs. Als das Mädchen in der neuen Stadt seine erste große Liebe trifft, entdeckt es in den Augen des Geliebten die grünen Berge wieder, die auch ein Bild der Hoffnung sind. Der Text erzählt meine eigene Geschichte. Das Mädchen bin ich, die als junge Frau mit ihren Bruder Sizilien verließ, um in Mailand ihre Träume zu verwirklichen. In „Montagne verdi“ haben sich damals viele wiedergefunden, die ihre Heimat verließen, um sich anderswo ein Leben aufzubauen und ihre Träume zu verwirklichen.
„Beim Festival von Sanremo bekam ich meine Revanche“
FEATURE: Sie stammen aus einer musikalischen Familie. Was sind Ihre ersten Erinnerungen an Musik?
Marcella Bella: In meinem Elternhaus wurde viel musiziert und gesungen. Ich hatte einen großen Bruder, Gianni Bella, der mehrere Instrumente spielte, vom Klavier über den Bass bis zur Gitarre. Er schrieb schon Lieder, als ich noch ein Kind war. In einem so musikalischen Umfeld konnte die Kleinste nicht zurückstehen. Schon damals fühlte ich mich auf der Bühne wohl. Wenn meine Geschwister oder meine Eltern mich baten, etwas für sie zu singen, stellte ich mich auf einen Stuhl und sang.
FEATURE: Als Teenager gewannen Sie Ihren ersten Gesangswettbewerb – und wurden nachträglich disqualifiziert. Warum?
Marcella Bella: Meine Brüder hatten mich ohne mein Wissen bei einem Festival angemeldet. Der Organisator kam auf mich zu und sagte: „Du weißt, dass man mindestens 15 Jahre alt sein muss, um teilnehmen zu können. Bist Du schon 15?“ Ich sagt „ja“, aber das war gelogen. Ich gewann das Festival. Im Nachhinein kam heraus, dass ich erst 13 war war. Der Sieg wurde mir aberkannt.
„In Sanremo wurde ich gefragt, wo ich meine Energie hernehme“, sagt Marcella Bella. Foto: Paolo De Francesco
FEATURE: Ihr Talent blieb also nicht unbemerkt. Gemeinsam mit ihrem Bruder bildeten Sie später das bekannteste Geschwisterpaar der italienischen Musik. Gianni Bella ist als Interpret wie auch als Komponist für andere Interpreten, wie Adriano Celentano, bekannt geworden. Celentano verdankt seiner Feder sein erfolgreichstes Album, „Io non so parlar d’amore“. Es heißt, Sie hätten sich gewünscht, dass Ihr Bruder mehr Lieder für Sie komponiert und weniger für andere.
Marcella Bella: Gianni hatte diese enorme Begabung! Er komponierte für mich zahlreiche wunderschöne Songs, neben „Montagne verdi“ auch „Io domani“, „Senza un briciolo di testa“ und „Nell’aria“. Für Adriano Celentano schrieb er zusammen mit dem Texter Mogol das Album, das Sie erwähnen. Jedes Mal, wenn Gianni einen neuen Song für Adriano fertig hatte, spielte er ihn mir vor. So hörte ich als erste Lieder wie „Gelosia“ und „Per averti“.
Als Gianni mir eines Tages am Klavier „L’emozione non ha voce“ vorspielte, war ich hingerissen. Ich flehte ihn an: Lass mich dieses Lied singen! Doch da war nichts zu machen. Er hatte es Celentano versprochen, daran musste er sich halten. Adriano war sich nicht einmal sicher, ob er es auf dem Album haben wollte. Claudia Mori, seine Frau, überredete ihn. Celentano interpretierte die Lieder, die Gianni für ihn geschrieben hatte, großartig. Von dem Album verkaufte er Millionen Platten. Mir blieb nur der Traum, „L’emozione non ha Voce“ irgendwann einmal selbst vor großer Öffentlichkeit zu singen. Nach vielen Jahren bekam ich jetzt meine Revanche. Beim Festival von Sanremo gibt es einen Abend, an dem die Teilnehmer des Wettbewerbs Coverversionen singen. Ich entschied mich für „L’emozione non ha voce“. Gianni saß im Publikum in der ersten Reihe. Es war ein sehr bewegender Moment.
„Fast jeden Tag stirbt in Italien eine Frau durch die Hand eines Mannes“
FEATURE: Ein Schlaganfall 2010 beeinträchtigte das Sprachvermögen ihres Bruders, er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Auch Sie selbst traten seltener auf.
Marcella Bella: Das hatte auch damit zu tun, dass Gianni keine Songs mehr für mich schrieb. Aber es geht ihm gut, er liebt das Leben, das ist das Wichtigste.
FEATURE: In Sanremo erlebten Sie dieses Jahr Ihr vielbeachtetes Comeback. Wie kam es dazu?
Marcella Bella: Meine Rückkehr zum Festival von Sanremo nach 18 Jahren verdanke ich unter anderem meinem Manager Pasquale Mammaro. Er machte sich für meine Teilnahme stark.
Auch Marcella Bellas neuer Song, Pelle diamante, hat in Italien bereits Kultstatus erlangt. Foto: Paolo De Francesco
FEATURE: Ihr Sanremo-Beitrag „Pelle diamante“ (Diamantene Haut) ist eine Hommage an die starke, emanzipierte Frau. Fanden Sie, es war Zeit für eine feministische Botschaft an Italiens Frauen?
Marcella Bella: Es war mir wichtig, mich nach so langer Abwesenheit mit einem neuen Stil und mit einem zeitgemäßen Thema zu präsentieren. Ich möchte ja auch die junge Generation erreichen. Ich wollte außerdem mit einer kämpferischen Aussage auf die Bühne zurückzukehren. Das Lied fordert Frauen auf, „forte, tosta, indipendente“ (stark, hart, unabhängig) zu sein. Der Song hat sich zu einer Hymne geschiedener Frauen entwickelt (lacht). Der Diamant ist das härteste Mineral der Welt, gleichzeitig ist er sehr kostbar. Wir Frauen waren schon immer stärker als die Männer, wurden aber über Jahrhunderte unterdrückt. Heute macht die Stärke der Frauen gewissen Männern Angst. In Italien werden Frauen gerade sehr schlecht behandelt. Fast jeden Tag stirbt eine Frau durch die Hand eines Mannes. Es kommt mir vor, als fielen wir ins Mittelalter zurück.
FEATURE: Sie haben den Feminismus der 1970er Jahre kennengelernt. Erleben wir Rückschritte gegenüber damals?
Marcella Bella: Ich kann nur von Italien sprechen, nicht von Ländern, die ich nicht gut kenne. Unter dem Einfluss der 68er-Bewegung gingen Italiens Frauen damals für ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung und für ihre Rechte auf die Straße. Im Vergleich zu damals haben wir uns zurückentwickelt. Das gilt auch für die Musik.
„Mein Mann sagt, ich sei von innen schöner als von außen“
FEATURE: Sie spielen an auf die Zeit Ihrer ersten großen Erfolge. Es war auch die Geburtsstunde bewunderter Sänger und Liedermacher wie Lucio Dalla, Franco Califano und Lucio Battisti, um nur drei Beispiele zu nennen.
Marcella Bella: In den 1970er Jahren gab es die beste Musik der Welt. Italien nahm internationale Strömungen aus Pop, Rock und Blues auf. Italien war bekannt für die Melodie, nicht für Rap. In der Melodie liegt die Stärke der italienischen Musik. Es gibt diese Qualitäten von früher auch heute noch, gleichzeitig ist aber Rap sehr in Mode. Auch die Texte haben sich verändert. Früher waren sie persönlich, heute sind oft allgemein und unpersönlich. Musik wird heute am Computer produziert. Für mich ist das Einweg-Musik. Ich bezweifle, dass sie in 50 Jahren so begeistert gesungen wird wie das heute bei „Montagne verdi“ der Fall ist.
FEATURE: Warum sind die Songs von damals bei jungen Musikern und beim Publikum bis heute gleichermaßen beliebt?
Marcella Bella: Die Menschen haben eben eine Sehnsucht nach Liedern.
FEATURE: In Italien wird kritisiert, dass junge Sängerinnen und Sänger fehlende stimmliche Ausbildung mit Autotune ausgleichen, einer Software, mit der sich die Stimme verändern lässt und unsauber getroffene Töne korrigiert werden können.
Marcella Bella: So ist es. Ich gebe aber zu, dass ich in dem neuen Club-Remix von „Montagne verdi“ selbst Autotune eingesetzt habe, aber das war eine Ausnahme, die dazu diente, bestimmte Effekte zu erzeugen.
„Um Drogen und Exzesse habe ich einen Bogen gemacht“, sagt Marcella Bella. Foto: Paolo De Francesco
FEATURE: Sie bekommen nach Konzerten, bei denen sie mit jungen Tänzerinnen auftreten, viel Lob für Ihre Energie und Fitness. Was ist Ihr Geheimnis? Was hält Sie jung?
Marcella Bella: Es hält jung, von innen schön zu sein. Es steckt noch immer viel Enthusiasmus in mir. Ich begeistere mich für die schönen Dinge des Lebens, für die Musik, den Tanz, die Natur. Mein Mann sagt manchmal, ich sei von innen schöner als von außen (lacht). Ich habe immer darauf geachtet, gesund zu leben. Exzesse habe ich nie gesucht. Auch von Drogen habe ich mich ferngehalten. Da ich von Natur aus eher faul bin, mache ich keinen Sport. Trotzdem bin ich schlank. Die Figur habe ich von meiner Mutter geerbt. Auch meine Tanten mütterlicherseits waren alle dünn, sie wirkten viel jünger, als sie waren. In Sanremo wurde ich übrigens gefragt, woher ich meine unglaubliche Energie hernehme. Ich antwortete: Diese Energie gibt mir der Vulkan.
FEATURE: Sie meinen den Ätna, dem Sie 2024 ein Lied gewidmet haben?
Marcella Bella: Ja. Meine Leidenschaft ist geboren aus der Nähe zum Ätna. Schon in meiner Kindheit gab mir der Vulkan viel Energie. Ich habe ihn mir als eine große Mamma vorgestellt, die die Menschen beschützt. Manchmal hat sie ihre Eruptionen, aber die sind meistens harmlos.
FEATURE: In Italien sind ästhetische Eingriffe sehr beliebt, auch bei jungen Menschen. Sie scheinen das kritisch zu sehen. Als Ihnen auf Facebook jemand unterstellte, hier künstlich nachgeholfen haben, dementierten sie das und boten der Person an, die Nummer des Schönheitschirurgen Ihrer Kollegin Ornella Vanoni für sie in Erfahrung zu bringen.
Marcella Bella: Es tut mir leid, Ornella in diese Auseinandersetzung hineingezogen zu haben. Jeder soll mit dem Thema umgehen, wie er es für richtig hält. Trotzdem würde ich von Schönheits-OPs abraten. Ich habe Verständnis dafür, wenn jemand ein gewisses Alter erreicht hat oder Komplexe wegen seiner Nase hat. Aber gerade junge Menschen sollten die Finger von plastischer Chirurgie lassen. Und haben Sie schon einmal eine Frau mittleren Alters gesehen, die, nach einem Eingriff jünger aussah? Glatter vielleicht, aber nicht jünger. Das ein oder andere Fältchen trägt außerdem zur Faszination eines Menschen bei.
„Es wäre wunderbar, Montagne verdi in der Allianz-Arena zu singen“
FEATURE: Sie leben in Mailand. Wie hat Sie Ihre sizilianische Herkunft geprägt, was verbindet Sie noch mit der Insel?
Marcella Bella: Mailand symbolisierte schon immer die Zukunft. Gerade in den letzten Jahren hat sich die Stadt sehr positiv weiterentwickelt. Sizilien ist eine Insel von großer Schönheit und mit faszinierender Geschichte. Wenn ich an Sizilien denke, vermisse ich vor allem das Meer. Zum Glück habe ich dort ein Haus und kann dort immer hinfahren, wenn es die Zeit erlaubt. Gianni und ich kamen sehr jung nach Mailand. Es ist klar, dass unsere Leidenschaft, unsere Wärme, unsere Liebe zur Musik, und die Art, wie wir gesungen haben, etwas damit zu tun haben, dass wir Sizilianer sind. Wenn Gianni nicht Sizilianer wäre, hätte er nicht diese Musik geschrieben, und wir hätten sie nicht mit dieser Leidenschaft interpretiert.
FEATURE: Noch eine Frage zu „Montagne verdi“. Wollen Sie nicht einmal selbst mit Ihrem Lied in der Allianz-Arena auftreten?
Marcella Bella: Das wäre wunderbar. Kurz vor der Meisterfeier des FC Bayern standen wir dazu mit Luca Toni im Kontakt, einem ehemaligen Bayern-Spieler. Aber das war wohl etwas kurzfristig. Luca sagte, Ihr Deutschen plant alles lange im Voraus.
FEATURE: Wir bedanken uns für das Gespräch
Das jüngste Album von Marcella Bella heißt „Etnea“ ( 2025) und ist auf Apple Music, Spotify und anderen Musikplattformen zu finden.
© Holger Christmann







