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Das flüssige Gold von Santorini
Die Kykladeninsel ist berühmt für ihre weißen Küstenorte. Kenner schätzen den erlesenen Wein von Santorini, der als der beste Griechenlands gilt. Eine junge Generation von Winzern setzt mit Leidenschaft und Innovationsgeist das Erbe der Pioniere fort. Doch die einzigartige vulkanische Landwirtschaft ist durch den Übertourismus bedroht. Jetzt regt sich Widerstand.
VON HOLGER CHRISTMANN
21. Oktober 2024
Kykladische Häuserlandschaft: Um diese Szenerie zu sehen, besuchen jedes Jahr dreieinhalb Millionen Menschen das Dörfchen Oia auf Santorini. Foto: Holger Christmann
Schon Mitte Mai herrscht in den Straßen von Oia auf Santorini dichtes Gedränge. An den engen Stellen der Fußgänger-Promenade Nikolaou Nomikou, die quer durch den Ort führt und die besten Ausblicke auf die steil abfallende weiße Häuserlandschaft und das azurblaue Meer bietet, entstehen Staus, sobald auch nur ein Fußgänger stehenbleibt, etwa um ein Gebäude zu bewundern oder einen Blick in eine der luxuriösen Modeboutiquen zu werfen. Mit ihren weißen, kubischen, in den Tuffstein hineingebauten Häusern, den blauen Tupfern der Swimmingpools und gekachelten Kuppeln ist die 1000-Seelen-Gemeinde, die „Ia“ ausgesprochen wird, der Inbegriff der Kykladen. Enge Treppen führen hinab zu immer neuen Aussichtspunkten. Jede Perspektive eröffnet neue Blickwinkel. Oia ist ein Ort, bei dem man sich kneift und sich fragt, ob die Kulisse in ihrer stilistischen Perfektion real ist. Kein Wunder, dass jeder davon träumt, sie einmal mit eigenen Augen zu sehen. Santorini, von den Venezianern nach der Heiligen Irene benannt, erweckt selbst in Influencerinnen so erhabene Gefühle, dass sie sich auf den Terrassen und Stufen in wallenden Kleidern ablichten lassen – Goddess-Look nennt sich die Pose in Anlehnung an Gewänder griechischer Göttinnen in der Kunst. Wie Venedig oder Dubrovnik leidet Santorini an den Folgen des Übertourismus. An manchen Tagen bewegen sich bis zu 17.000 Touristen auf der Insel, darunter viele Tagestouristen von Kreuzfahrtschiffen, die vor der Küste vor Anker liegen. Ellbogen an Ellbogen stehen sie im Sonnenuntergang an den Aussichtspunkten von Oia und Thira, Orten, die für hunderte Bewohner, nicht für abertausende Besucher errichtet wurden. Im Juli empfahl ein lokaler Politiker den Bürgern an einem Tag mit Hochbetrieb, lieber nicht vor die Tür zu gehen. Mancher empfand das als Lockdown für Einheimische, damit sich die Touristen frei bewegen können.
Ein Weingut mit spektakulärer Aussicht
Zehn Kilometer weiter südlich geht es an diesem Frühlingstag deutlich ruhiger zu. Auch hier ist die Aussicht geradezu irreal spektakulär. Von der Terrasse des Weinproduzenten Santo fällt der Blick auf die 80 Quadratkilometer große azurblaue Bucht der Caldera und die archaisch-braune Steilküsten der Insel, auf denen die Orte Oia und Thira nur als kleine weiße Streifen zu erkennen sind.
Die Caldera ist das Ergebnis eines Vulkanausbruchs, der 1625 vor Christus stattfand. Die Eruption sprengte das Zentrum der Insel weg, übrig blieb von Thira, wie Santorini in der Antike hieß, die heutige Sichelform. Die Eruption hatte welthistorische Dimension: Der Archäologe Spyridon Marinatos war überzeugt, dass der Ausbruch des Vulkans von Thira zum Untergang der Minoischen Zivilisation führte, der frühesten Hochkultur Europas. 1967 grub Marinatos auf Santorini eine antike Stadt aus, die der feuerspeiende Berg unter Lava, Asche und Bimsstein begraben hatte: die Hafenstadt Akrotiri. Das Pompeji der Ägais gab bedeutende Wandmalereien frei. Fresken wie die Boxenden Jünglinge, das Frühlingsfresko oder Darstellungen minoischer Frauen gehören zum Schönsten und Sinnlichsten, was die antike griechische Kunst hervorgebracht hat. Zu sehen sind die Kunstwerke im Prähistorischen Museum der Inselhauptstadt Thira und im Archäologischen Nationalmuseum von Athen.
Die Terrasse von Santo Wines ist ein Geheimtipp für den Sundowner. Foto: Santo Wines
Hauptsponsor der Ausgrabungen von Akrotiri war seit 2016 Jewgeni Kaspersky, Gründer und CEO des russischen Cybersecurity-Unternehmens Kaspersky Lab. Angeblich stellte er seine Unterstützung aufgrund westlicher Sanktionen gegen Kaspersky Lab im Zuge des Ukraine-Kriegs ein. Dass der Vulkan in der Caldera für die Zukunft eine Gefahr darstellt, fanden Forscher des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel heraus, als sie in der Caldera Belege für eine Unterwasser-Eruption 726 nach Christus fanden. Rund um Akrotiri fanden die Archäologen Hinweise auf die vermutlich älteste Weinproduktion der Welt.
Der Wein ist neben den weißen Küstenorten, den flammenden Sonnenuntergängen und der dramatischen Landschaft eine weitere Attraktion Santorinis. Er gilt als der beste Griechenlands. Seine Entstehung und Qualität grenzen an ein Wunder. Wer die staubtrockenen Böden und die gedrungenen, in weiten Abständen verteilten Reben zum ersten Mal sieht, fragt sich, wie in diesen klimatischen Bedingungen ein außergewöhnlicher Wein gedeihen kann. Nur rund 300 Millimeter Regen fallen auf Santorini im Jahr, so wenig wie in Mali oder Namibia. Das ganze Jahr über strapaziert der Meltemi, ein starker Wind, die Pflanzen.
Doch zum einen sind die vulkanischen Böden reich an Mineralien, zum anderen hält der Bimsstein die Feuchtigkeit im Boden und mildert so den Stress im Sommer. Der Erfolg des Weinbaus auf Santorini hat außerdem viel mit der einheimischen Rebsorte Assyrtiko und einer speziellen Anbaumethode zu tun. Um den Wein vor Sonne und Sturm zu beschützen, haben die Winzer der Insel eine einzigartigen Kniff erfunden, die Kouloura: Im Winter und im Frühling werden bei der Beschneidung die stärksten Triebe der Rebe ausgewählt und kreisförmig verflochten, sodass die Rebe einem Korb ähnelt. Die Pflanzen werden niedrig und nahe am Boden gehalten und bilden einen spiralförmigen natürlichen Kranz, der als Schild dient, um die Trauben vor den starken Winden, aber auch vor der Sonne schützen. Abhilfe gegen die Trockenheit schafft ein vom Meer hereinwehender Nebel, die Anedossa. Er spendet den Pflanzen Feuchtigkeit und verleiht dem Wein zusätzliche Salzigkeit und Mineralität.
Assyrtiko-Weinstöcke sind zu Körben gebunden, um die Reben vor Sonne und Wind zu schützen. Foto: Sigalas
Der trockene, lehmfreie Boden hat außerdem einen heimlichen Vorteil. Er ist so wasserarm, dass weder die Reblaus noch andere Schädlinge auf ihm wohl fühlen. Während die Reblaus im 19. Jahrhundert drei Viertel der Weinreben auf dem europäischen Kontinent vernichtete, blieben auf Santorini hundert oder mehrere hundert Jahre alte Rebstöcke erhalten. Alte Reben tragen zwar weniger Früchte, stecken aber ihre ganze Kraft in die Versorgung der wenigen Trauben. Daraus ergibt sich eine intensive Konzentration von Aromen.
Der Assyrtiko ist die vorherrschende Rebsorte auf Santorini. Sie bringt enorm körperhaltige Weine mit frischer Säure, Zitrusnoten und hohem Reifepotential hervor. In kleinerem Umfang werden auf der Insel auch andere Trauben angebaut: die Weißweinsorten Aidani und Athiri und die Rotweinsorten Mandilaria und Mavrotragano. Assyrtiko ist jedoch die ungekrönte Königin des Weins von Santorini. Weine, welche die geschützte Ursprungsbezeichnung Santorini tragen, müssen zu mindestens 85 Prozent aus ihr bestehen.
Eingang zur Kellerei von Santo Wines. Foto: Santo Wines
Doch auch der stressresistente Assyrtiko ist nicht gegen jedes Extremwetter gefeit. Und eine Problem für die einzigartige und traditionsreiche Weinkultur Santorinis stellt ausgerechnet das Interesse von Menschen aus der ganzen Welt an dieser Insel dar. Doch dazu weiter unten mehr.
Ihre Beliebtheit wird für die Insel zum Problem
Zurück zu Santo Wines: Die 1911 gegründete Dachgesellschaft der Winzergenossenschaften von Santorini ist ihr wichtigster Abnehmer und damit der größte Hersteller der Insel. Die Winzervereinigung hat 1200 Mitglieder und bewirtschaftet etwa die gleiche Hektarzahl an Rebfläche. Markenbotschafter Nektarios Bileris zeigt beim Rundgang durch die Kellerei, wie hoch der Qualitätsanspruch ist. Die Anlagen arbeiten nach dem Gravitationsprinzip. Die Trauben werden am höchsten Punkt des Kellers angeliefert. Die Flüssigkeiten fließen allein durch die Schwerkraft eine Ebene tiefer, wo sie weiterverarbeitet werden. Das ist schonender als der Einsatz von Pumpen, die den Rebensaft erwärmen und umwälzen, wodurch die Gefahr der Okzidation besteht.
Nektarios Bileris, Botschafter von Santo Wines, macht sich Sorgen um die Zukunft des Weinbaus auf der Insel. Als Gründe nennt er neben dem zunehmend härteren Klima die Verdrängung von Weinbergen durch den Tourismus. Foto: Holger Christmann
Beim Tasting in der weitläufigen Verkostungshalle gibt Bileris einen Überblick über die Santo-Weine: Schon der in Stahltanks gereifte Assyrtiko spielt seine Stärken aus. Er begeistert durch florale und Zitrusaromen, hohe Mineralität, delikate Säure und mineralisch-fruchtigem Geschmack. Die körperreiche Selection Cuvée ist zusätzlich mindestens zehn Monate auf der Feinhefe gereift und damit cremiger. Der Santorini Assyrtiko Grande Reserve wird 12 Monate in französischem Barrique angebaut und reift zusätzlich zwölf Monate in der Flasche. Die Grande Reserve entwickelt ein komplexes Bouquet aus Nüssen, Honig, Kräutern und Vanille, die sich mit Aromen von Zitrusfrüchten und süßen Gewürzen ergänzen. Eine Ausprägung des Assyrtiko ist der Nykteri. Er verdankt seinen Namen der Lese in der Abenddämmerung und verbringt einige Monat in Barrique-Fässern. Der Nykteri von Santo Wines ist eine elegante Cuvee aus den Rebsorten Assyrtiko, Athiri und Aidani.
Der Vinsanto ist seit Jahrhunderten bekannt
Auf Santorini ist man stolz auf die große Weintradition der Insel. Lange vor unserer Zeit war ein anderer Wein aus Santorini im Mittelmeerraum bekannt: der Vinsanto. Die Produzenten auf der Kykladeninsel sind überzeugt, dass der Süßwein aus sonnengetrockneten Trauben, der sich von anderen seiner Art durch eine erfrischende Säure abhebt, seinen Ursprung auf ihrer Insel hat und nicht etwa in der Toskana, wo er zusammen mit Mandelkeksen genossen wird. Bileris holt historisch weit aus, um diese Überzeugung zu belegen. Die Geschichte beginnt im späten Mittelalter, als die Republik Venedig die Ägäis beherrschte. Die Venezianer hätten den Vinsanto von Santorini in den Hafenstädten Triest, Ancona und Venedig bekannt gemacht, so der Santo-Botschafter. Über Konstantinopel soll er bis Russland gelangt sein, wo er der bevorzugte Messwein der russisch-orthodoxen Kirche war. Die ganze Geschichte lässt sich in der EU-Verordnung mit dem Aktenzeichen PDO-GR-A1065-AM0 nachlesen. Bileris zitiert zudem einen Brief, den 1729 Kapitäne an den katholischen Bischof von Santorini geschrieben hätten. Darin klagten sie, ein Piratenschiff habe zwei Schiffe aus Santorini geplündert und zehn Fässer Wein und fünf Fässer „Vinsanto“ mitgenommen. Im 19. Jahrhundert führte die Insel dank des Vinsanto mehr Wein aus als das ganze übrige Griechenland. Ob der Süßwein seinen Namen der Insel verdankt oder der Heiligen Messe, bleibt unbeantwortet.
Trauben trocknen in der Sonne der Ägäis. Sie werden zu Vinsanto verarbeitet, einem Süßwein mit langer Geschichte. Die Venezianer, die über Jahrhunderte die Ägäis beherrschten, verbreiteten ihn im Mittelmeerraum. Der russisch-orthodoxen Kirche diente der „heilige Wein“ jahrhundertelang als Messwein. Foto: Sigalas
Dann kommt Bileris auf die Schattenseiten der Gegenwart zu sprechen: Trockenheit und Stürme verhagelten zuletzt mehrere Jahrgänge des Vinsanto. Der wird nur in ertragreichen Jahren produziert. An denen besteht jedoch seit Jahren Mangel. Zwischen 2016 und 2020 fielen die Erträge aufgrund fortgesetzter Trockenheit um 30 bis 40 Prozent, klagt Nektarios Bileris. „2023 war von allen Jahren das schlimmste“, klagt er. Im Winter hatte es fast nicht geregnet. Im Frühjahr wehten starke Winde, welche die Reben schon während der Blüte zerstörten. Im Sommer folgte extreme Hitze. „Bei einem unserer Winzer überlebte kein einziger Rebstock“, bedauert Bileris. Andere Weinbauern verloren 80 bis 100 Prozent ihrer Ernte. Beläuft sich der Ertrag von Santo Wines in normalen Jahren auf 3000 Tonnen, so fiel er 2023 auf 750 Tonnen. Der Jahrgang 2024, so fürchtet der Experte, wird kaum ergiebiger werden. „Es dauert, bis sich die Pflanzen erholen“, erläutert er. Nach der Ernte steht fest, dass Santo auch 2024 keinen Vinsanto produzieren wird. Grund sind erneut zu geringe Erträge. Wehmütig wird Bileris, wenn er an den Jahrgang 2004 zurückdenkt, das ertragreichste Jahr, an das er sich erinnert. Sollte die Winde sich weiter verstärken, könnte der berühmte Dessertwein bald noch mehr zur Rarität werden.
Der Brand Ambassador spricht ein weiteres kritisches Thema an: den Übertourismus: „Jeder investiert jetzt lieber in touristische Infrastruktur als in den Wein“, sagt er. Ich frage ihn, was für die Zukunft sein Worst-Case-, was sein Best-Case-Szenario wäre. Die erste Option übergeht er, die zweite ist für Santorini nur bedingt schmeichelhaft: „Der Best Case wäre, auf Santorini ein Hotel zu besitzen und an einem anderen, schönen Ort zu wohnen.“ „Auf Santorini“, so tönt der Botschafter von Santo Wines völlig ironiefrei, „ist es mir zu trocken“.
Paris Sigalas entdeckte das Potential des Assyrtiko
Am Nordzipfel der Insel, unweit des schwarzen Strandes von Baxedes, bietet sich ein ähnlich zwiespältiges Bild: Von Kritikern gefeierte Weine treffen auf Probleme der Gegenwart. Dabei ist es nicht lange her, da erlebte Santorinis Weinbau eine Qualitätsrevolution, die ihm international Anerkennung brachte. Einer der Väter dieser Revolution ist Paris Sigalas. Der Mathematiker ging schon in jungen Jahren seinem Großvater in der Kellerei zur Hand. Anfang der 1990er Jahre begann er gemeinsam mit anderen Produzenten, die Trauben früher zu ernten, um frischere, säurehaltige Weißweine zu erzeugen. Der erste Jahrgang im neuen Stil war der 1991er. Mit der Serie Seven (griechisch: Epta) demonstriert er Jahr für Jahr die Vielfalt des Terrors der Insel. Weine ausgewählter Lagen aus sieben Dörfern werden separat vinifiziert. Der beste des Jahrgangs wird Teil der Epta-Kollektion.
2020 beauftragte Weingutsdirektor Stellios Boutaris ein Team junger Wissenschaftler mit der Weiterführung des Sigala-Erbes. Von links: Kostas Tellis, Winzer, Sara Iakovidou, verantwortlich für die Weinherstellung, George Macheras, Keller-Manager und Yiannis Boutaris, Stellios‘ Sohn und Markenbotschafter der Domaine Sigalas. Foto: Sigalas
Auf 40 Hektar eigener Rebfläche und durch Zukauf von Trauben ausgewählter Lagen anderer Erzeuger produziert Sigalas heute 300 000 Flaschen Wein im Jahr. 50 Prozent davon gehen in den Export. Aufgrund des besonders hohen Alters der Reben entfaltet die Rebsorte Assyrtiko in den Sigalas-Weinen ihre Qualitäten besonders gut. Die Sigalas-Weine bleiben in Erinnerung. 2020 verkaufte der Gründer die Mehrheit an dem Weingut an den Reeder Thanasis Martinos, um sich einem neuen Wein zu widmen, dem Oeno-P, selbstverständlich ein Assyrtiko.
Paris Sigalas erkannte das Potential des Assyrtiko. Sigalas-Weine zählen zu den edelsten DOP-Weinen Santorinis. Foto: Sigalas
Beim Besuch des Weinbergs benennt Labrini Kouvatsi, Hospitality Managerin von Sigalas, aber auch die Probleme. Das Klima verändert sich. „Vor zwei Wochen hatten wir mitten in der Blütezeit der Reben starken Wind“, sagt sie. Es war nicht der kühlende Meltemi aus dem Norden. Diesmal kam der Wind von Süden, aus der Sahara. Er war heiß, und er peitschte gegen die Reben, die gerade zu blühen begannen. „Er wirbelte den Boden auf und schleuderte Erdkrumen, Steine und Sand gegen die Blüten“, so Kouvatsi. Auch die Kouloura konnte diesmal Verluste nicht verhindern.
Gaia lagert einen Wein im Unterwasserkeller
Der Weinbau auf Santorini scheint ehrgeizige und experimentierfreudige Winzer wie Paris Sigalas anzulocken – oder wie Yiannis Paraskevopoulos. 1994 gründete der Agrarwissenschaftler und Önologe gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Leon Karatsalo auf Santorini das Weingut Gaia (gesprochen: Yay-ya). 1997 erwarb er weitere Parzellen in Nemea auf dem Peleponnes, der größten Weinbauregion auf dem Festland. Hier produziert er vor allem Agioritiko, den wohl besten Rotwein Griechenlands. 2009 und 2010 startete Paraskevopoulos ein Experiment, das zwischen spielerischem Forscherdrang und Marketing-Genialität angesiedelt ist. Taucher des Volcano Dive Center versenkten mehrere hundert Flaschen des Thalassitis-Weins auf dem Meeresgrund in einem „Unterwasserkeller“. In einer Tiefe von 25 Metern ist die Wirkung des Sauerstoffs gleich Null, so dass dieser für die Alterung des Weins keine Rolle spielt. Der Submerged Thalassitis reift vier bis fünf Jahre lang unter völliger Abwesenheit von Sauerstoff und bei den Temperaturen des ägäischen Meeresbodens. Bei Sammlern ist die besonders streng limitierte Kollektion gefragt.
Taucher befördern Weinkisten zum Meeresgrund. Unter Wasser reift der Gaia Thalassitits vier Jahre lang, ohne dass Sauerstoff in die Flaschen eindringen kann. Die Idee dazu hatte Yiannis Paraskevopoulos, Mitgründer des Weinherstellers Gaia. Der Gaia Thalassitis Submerged ist eine Rarität und schnell vergriffen. Foto: Gaia
Die Experimente überlässt Yiannis Paraskevopoulos zumindest auf Santorini inzwischen seiner Tochter Leto. Nach dem Studium der Biochemie und Molekularbiologie an den Universitäten von Leeds und Edinburgh trat sie in die Fußstapfen des Vaters.
Die Terrasse des Weinguts Gaia. Foto: Gaia
Gaia liegt in Exo Gonia direkt am Meer. Während im Hintergrund das Plätschern der Wellen gegen den Strand zu hören ist, erläutert Leto Paraskevopoulos ihre Philosophie. Die Naturwissenschaftlerin wollte sich mit „romantischen“ Termini wie „Salzigkeit“ und „Mineralität“ nicht zufriedengeben und ließ ihre Weine im Labor untersuchen. Dort stellte sie fest, dass die Begriffe gar nicht so falsch sind. So fand sie die vielgerühmte Salinität der Gaia-Weine in einem hohen Natrium-Gehalt bestätigt.
Lotet die Möglichkeiten des Assyrtiko aus: Leto Paraskevopoulos. Foto: Gaia
Der Agrarökonom Leon Karatsalos (2.v.l.) und der promovierte Önologe Yiannis Paraskevopoulos (2.v.r.), gründeten 1994 den Weinhersteller Gaia. Jetzt steht die nächste Generation in den Startlöchern. Leto Paraskevopoulos (r.) tritt bereits in die Fußstapfen des Vaters. Foto: Gaia
Klassiker ist auch bei Gaia der unverfälschte Assyrtiko, der bei Gaia Thalassitis heißt. Dem Nykteri merkt man seine Reife in Barriquefässern an. Es gibt zahllose Theorien zur Herkunft des Namens, Leto hat ihre eigene: Die Bauern hätten die Trauben spät am Tag in den Bottichen abgeladen und sie in kühlen Frühherbstnächten sich selbst überlassen. Der durch das Eigengewicht der Trauben und ohne maschinelle Hilfsmittel herausgepresste Saft hatte mehr Qualität, er war die „Crème de la Crème“, so Paraskevopoulos.
Eine neue Generation setzt neue Akzente
Mit dem Forscherdrang einer Alchimistin probiert die Biochemikerin immer neue Verschnitte von Grundweinen aus. Ein Ergebnis ist der Assyrtiko Wild Ferment. Die Trauben stammen aus dem Weinberg von Pyrgos. Leto beschreibt, wie der Traubenmost nach dem 12-stündigen Kontakt mit den Schalen bei zehn Grad Celsius in 1000-Liter-Edelstahltanks und in neue 225-Liter-Fässer aus französischer und amerikanischer Eiche sowie in Akazienfässer gefüllt wird. Die Weine werden mit wilden Hefen spontan vergärt. Dann sucht sie die besten Weine aus Tanks und Fässern aus. Ein anderes ihrer Experimente, der Gaia Ammonite, geschaffen aus Assyrtiko von über 100 Jahre alten, wurzelechten Reben am höchsten Punkt des Dörfchens Megalohori, wurde 2022 zum besten Wein Griechenlands gekürt.
Die Sonne ist schon untergegangen, das Meer schimmert silbern-gräulich, und die Küft kühlt merklich ab, als die schwungvolle Jungwinzerin weitere Weine hervorholt: „Optimus“, einen fülligen, samtigen Rotwein vom Peloponnes, in dem sich ein besonderer Agiorgitiko-Klon und ein Tropfen Vertzami vermählen. Auch an den Retsina wagte man sich bei Gaia heran. Der mit Harz versetzte Wein, den schon die Römer kannten, bereitete so manchem Tavernen-Besucher der 1980er Jahre Kopfschmerzen. Der Gaia Ritinitis Nobilis Retsina ist ein straffer Wein mit Frucht und Würze, aber der Beigeschmack von Kiefernnadeln der Aleppo-Pinie erinnert, wenn auch sehr diskret, an Erkältungstee.
Bei Argyros trifft Moderne auf Kykladenstil
Mein letzter Besuch führt auf das Weingut Estate Argyros in Episkopi Gonias. Es wurde 1903 von Georgios Argyros gegründet. Argyros ist damit noch älter als Santo Wines. Mit seinen 130 Hektar großen Latifundien und 38 festen Mitarbeitern rühmt es sich, das größte private Weingut der Insel zu sein. Sehenswert ist es schon architektonisch: Matthaios („Matthew“) Argyros, der es in vierter Generation führt, heuerte zwei Stararchitekten der Insel, Nikos und Frantseska Tsebelis, an, um die Kellerei neu zu entwerfen. Die Architekten richteten die Gebäude in Richtung Meer und Weinberge aus und gestalteten den Komplex aus Verwaltung, Kellerei und Verkostungshalle in inseltypischem Weiß. Das Ergebnis vereint Moderne und Kykladen-Stil. Zu den wiederkehrenden Bauelementen gehört ein schmaler Rundbogen.
Matthew Argyros entnimmt Proben eines neuen Jahrgangs. In vierter Generation leitet er Estate Argyros, den größten privaten Weinhersteller Santorinis. Foto: Estate Argyros
Ein Stararchitekten-Paar der Insel entwarf die neuen Kellereigebäude von Estate Argyros in einem modernen kykladischen Stil. Foto: Estate Argyros
Dimitris Motsos führt als Direktor das operative Geschäft. Der Marketing- und Kommunikationsprofi, der nicht nur ein Weindiplom, sondern auch noch einen Doktor in Kulturdiplomatie mitbringt, geht mit den Besuchern in den Weinberg. Er beugt sich über eine Kouloura, hält sie empor und erklärt: „Matthew hasst es, wenn ich das tue. Er sagt, ich mache das empfindliche Flechtwerk kaputt.“ Doch es muss sein, denn Motsos möchte zeigen, wie aufwändig die Weinlese von Hand ist, wenn man sich dabei ständig bücken muss.
„Selbst ein Parkplatz bringt mehr Geld als ein Weinberg“
Das Ergebnis ist die Mühe wert. Wieder beeindruckt das Alter der Weinstöcke. Der klassische, in Edelstahltanks und zwei Monate auf Feinhefe ausgebaute Assyrtiko von Agyros verdankt seine Aromatik aus Zitrus und Kräutern mehr als hundert Jahre alten Parzellen aus den besten Lagen der Insel. Die Cuvee Monsignori stammt von mindestens zweihundert Jahre alten Reben, die nur winzige Erträge liefern. Nach rund elf Monaten Reifung in Edelstahltanks auf der Feinhefe reift sie vier Jahre in der Flasche weiter, bis sie Fülle und Cremigkeit erreicht hat. Die Cuvee Evdemon, ebenfalls aus uralten Reben erzeugt, reift dreißig Monate in Edelstahltanks, ein Viertel reift zwölf Monate in Fässern aus französischer Eiche und die restlichen Monate in Edelstahl.
Dimitris Motsos, erklärt die Kouloura, das schützende Gebinde der Assyrtiko-Rebe. Foto: Holger Christmann
Auch Estate Argyros erntet international Lobeshymnen. Doch auch Dimitris Motsos ist sorgt sich wegen des extremer werdenden Klimas und der Übermacht des Tourismus. Die vulkanische Landwirtschaft auf Santorini werde immer weiter zurückgedrängt, weil der Hotelbau für die Winzer lukrativer ist als der Weinanbau. „Junge Leute sagen ihren Eltern: Die Arbeit im Weinberg ist anstrengend. Lass uns ein AirBnB eröffnen“, berichtet Motsos. „Selbst ein Parkplatz bringt mehr Geld als ein Weinberg“, spitzt er seine Botschaft zu.
Braucht Santorini ein Gesetz gegen die Bauwut?
Braucht Santorini ein Gesetz gegen die Zubetonierung der Insel? Das fordern lokale Politiker, Umweltschützer und Weinhersteller. Es gehe darum, Santorinis einzigartige vulkanische Landwirtschaft, „besonders seinen renommierten Weinanbau, vor der rapiden Expansion des Tourismus zu bewahren“, schreibt mir Katerina N. Filippou, Marketing-Managerin von Santo Wines in einer What’s-App-Nachricht. Santorinis Weinberge gehörten „zu den ältesten der Welt und sind ein entscheidender Teil des landwirtschaftlichen und kulturellen Erbes der Insel“. Der steigende Druck durch den Tourismus stelle „eine Bedrohung für die Erhaltung dieses Erbes dar, da immer mehr Land in Baugrund für Hotels, Resorts und andere touristische Einrichtungen umgewandelt wird“, mahnt die Managerin.
Einen symbolischen Erfolg erzielte die Insel 2019, als Santorini als erste DOP-Weinregion Griechenlands in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Die Aufnahme der einzigartigen Weinbau-Traditionen Santorinis ins Weltkulturerbe der UNESCO soll folgen. Zugleich fordern Santo Wines und andere neue Flächennutzungspläne für Santorini.
Das letzte Wort hat die griechische Regierung. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der liberal-konservativen Partei Nea Dimokratia gilt Bauprojekten und touristischer Entwicklung gegenüber als wohlgesonnen. Für ihn hat die Fortsetzung des Wirtschaftsaufschwungs in dem einstigen Krisenland Priorität. Die Behörden in Athen verteilten in den letzten Jahren großzügig Baugenehmigungen auf Santorini. Die Behörden in Athen verteilten in den letzten Jahren großzügig Baugenehmigungen auf Santorini. Einige widerrief das Umweltministerium in diesem Sommer, nachdem ein massiver Erdrutsch auf der Nachbarinsel Therasia auch auf Santorini Zweifel an der Stabilität der Steilküsten aufwarf.
Einig scheint man sich mit der Regierung zu sein, wenn es darum geht, die Zahl der Kreuzfahrtschiff-Passagiere 2025 auf 8000 am Tag zu limitieren und die Gebühren pro Passagier auf 20 Euro zu erhöhen. Doch diese Maßnahmen lösen nicht das Problem der Bebauung und Zersiedelung der Insel. Und den enormen Strom -und Wasserverbrauch, der in der Hochsaison mit den Touristen und den Swimming-Pools einhergeht.
Der Bürgermeister möchte zusätzliche Hotels verbieten
Auf ihrer Seite weiß Katerina Filippou den Bürgermeister von Thira, Nikos Zorzos. Er drängt die Behörden seit Jahren dazu, kein zusätzliches Bett auf der Insel zu genehmigen. Die britische Zeitung Guardian rechnete vor, dass Santorini schätzungsweise 80.000 Hotelbetten besitze, mehr pro Quadratmeter als jedes andere griechische Reiseziel außer Kos und Rhodos. Dem Informationsdienst Greek Reporter sagte Nikos Zorzos im August, er habe die Regierung aufgefordert, „den Bau aller Arten von Hotelanlagen, Kurzzeitvermietungen und insbesondere strategische Investitionen zu stoppen, nicht nur für die Caldera, sondern für die gesamte Insel Santorini. „Wenn man eine so reiche Landschaft wie die unsere zerstört, zerstört man den Grund, warum die Menschen überhaupt hierherkommen“, so der Bürgermeister.
Filippou versichert, dass es nicht darum gehe, die Landwirtschaft gegen den Tourismus auszuspielen, sondern eine Balance zu finden: „Mit diesem Gesetz soll ein Gleichgewicht zwischen der Förderung des lebenswichtigen Tourismussektors auf Santorini und dem Schutz seiner landwirtschaftlichen Wurzeln hergestellt werden, damit auch künftige Generationen von beidem profitieren können“, betont sie. Es ist unklar, wie der Kampf zwischen Weinbauern und Tourismus ausgehen wird.
Wer Santorini ungestört erleben will, der sollte im Mai kommen. Das Meer ist dann zwar noch zu kühl zum Baden, aber die Temperaturen steigen tagsüber auf über 20 Grad. Und nur im Mai lässt der Wind für ein paar Wochen nach. Im Restaurant Metaxa mas, spektakulär auf einer Anhöhe mit Meerblick gelegen, ist es zwar schon rappelvoll. Wer aber etwas abseits im wunderbaren Fisch-Restaurant Ta Dichtia in Perivolos im Südosten der Insel zu seinem Glas Assyrtiko fangfrische Meerbrasse oder Dorade isst, begleitet von dem köstlichen Platterbsen-Püree Fava, das eine Spezialität der Insel ist, der hat Santorini fast für sich. Der Übertourismus wirkt dann wie ein Problem, kreiert von Menschen, die einfach das falsche Timing haben.
Die Reise wurde unterstützt von HEVA, einem Projekt der Europäischen Union zur Förderung vulkanischer Landwirtschaft in Europa.
© HOLGER CHRISTMANN/FEATURE